Das gläserne Tor
gleiten und beugte sich über ihn. »Henon. Henon! Bei allen Göttern, sag etwas!«
Grazia lief ins Schlafzimmer zurück, raffte eine Decke und kehrte zu ihnen zurück. Sie kniete sich hin, schob eine Hand unter Henons Kopf und bewegte ihn vorsichtig. Wie leicht er sich anfühlte! Mit einem Zipfel der Decke tupfte sie ihm das Blut von der Stirn. Er merkte es nicht. Er war bewusstlos.
»Anschar, was ist nur …«, begann sie, doch Anschars kalkweißes Gesicht würgte ihr die Worte ab. Er strich über Henons Wangen, die ganz eingefallen waren, über seine Augenlider. Noch schien nicht zu ihm durchgedrungen zu sein, dass der alte Mann im Sterben lag.
Er warf den Kopf zurück und blickte zur Tür. Im nächsten Augenblick war er auf den Beinen, stürzte an die Tür und zerrte jemanden herein. Ein Mann flog quer durch den Raum und fand erst Halt an einem der Terrassenpfeiler. Er drehte
sich um und presste den Rücken an die gemalten Weinranken. In der Hand hielt er eine blutige Peitsche.
»Du bist zu spät, Sklave.« Egnasch schüttelte die Peitsche aus. »Mallayur schickt mich, dich zu holen.«
»Und ihn niederzuschlagen?«, herrschte Anschar ihn an.
»Er wollte nicht öffnen.«
»Er konnte nicht öffnen! Siehst du?« Anschar warf die Tür zu und legte die Hand auf den Riegel. »Siehst du das?« Mit einem Aufschrei legte er ihn vor.
Grazia spürte, wie sich Henons Finger bewegten. Sie ergriff seine Hand, drückte sie und suchte sein Gesicht nach einem Anzeichen ab, dass er wieder erwachte. Noch atmete er. Dicht an ihm stapfte Anschar vorbei. Als sie wieder den Kopf hob, sah sie, dass er sein Schwert in der Hand hielt. Es hatte irgendwo in einer Ecke gelehnt. Wie hatte er es so schnell an sich nehmen können? Egnasch stierte darauf. Er stand noch immer am Pfeiler. Nun tastete er hinter sich und zerrte einen Dolch aus seinem Gürtel.
»Bleib stehen, Sklave!«, schrie er. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. »Und wirf das Schwert weg!«
Er streckte den Dolch vor. Anschar hob das Schwert. Mehr tat er nicht, aber Egnasch verlor die Nerven, sprang vor und ließ mit der Linken die Peitsche vorschnellen. Anschar zuckte mit keiner Wimper, als sie auf seine Brust sprang und einen roten Striemen hinterließ. Seine Miene zeigte keinerlei Gefühlsregung. So hatte Grazia ihn in der Arena gesehen, und es ängstigte sie. Was immer er jetzt tat, er würde keinen Gedanken an die Folgen verschwenden.
Egnasch holte erneut aus, und diesmal zielte er auf Anschars Kopf. Als seine Hand vorschnellte, beschrieb die Schwertklinge einen schnellen, kaum erkennbaren Bogen. Er riss den Mund auf und erstarrte. Die Peitsche fiel zu Boden. An ihrem Griff klebten seine Finger.
Keuchend krümmte er sich und presste die verstümmelte Hand an die Brust.
»Dafür … wirst du sterben … Sklave.«
Anschar deutete mit der Schwertspitze auf Egnaschs Brust. Dem Aufseher knickten die Beine ein, aber es gelang ihm, sich wieder aufzurappeln. Noch hatte er seinen Dolch. Nützen würde der ihm jedoch nichts.
Grazia glaubte zu spüren, wie Henon unter ihr wegstarb. Jeder Atemzug ließ länger auf sich warten. Aus seinem eingefallenen Gesicht war das Blut gewichen. Die Lider wirkten schwer, seine Haut war dünn und durchscheinend. Sie ließ ein wenig Wasser auf seine Lippen tropfen, aber nichts deutete darauf hin, dass er es noch bemerkte.
Egnasch sprang vor und riss den Dolch hoch. Der Hieb war schwach. Anschar trat zur Seite, hielt ihn auf, indem er sein Handgelenk packte, und gab ihm einen Fußtritt, der ihn auf die Terrasse beförderte. An der Brüstung sank Egnasch zusammen, beide Hände erhoben. Die eine war eine blutige Masse, in der anderen zitterte immer noch der Dolch.
»Bleib mir vom Leib«, wimmerte er. »Dir muss doch klar sein, was mit dir passiert, wenn du mich umbringst?«
»Das ist mir egal.«
Nein, dachte Grazia, das darf so nicht enden! Sie ließ Henons Kopf zu Boden sinken, sprang auf und hastete auf die Terrasse. »Anschar, bitte hör auf! Du machst alles nur noch schlimmer.« Sie streckte sich nach ihm aus, berührte ihn an seiner linken Schulter. Da wirbelte er zu ihr herum und stieß sie von sich. Rücklings fiel sie hin, versuchte sich abzufangen und stieß mit dem Arm schmerzhaft gegen die Kante der Sitzbank. Der Hieb trieb ihr das Wasser in die Augen, tränenblind kroch sie von Anschar fort. Warum hatte sie das getan? Sie hätte wissen müssen, dass es der denkbar schlechteste Zeitpunkt war, ihn anzufassen. Es ließ sich
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