Das gläserne Tor
ganzes Dutzend heran, setzte sich an den Tisch und machte sich daran, vorsichtig die Federn auszurupfen.
»Die verkaufe ich«, erklärte er. »Die Argaden sind ja ganz versessen auf Federn. Und wir haben nachher ein leckeres Abendessen.«
Zu Grazias Verblüffung setzte sich Anschar dazu, nahm einen Vogel in die Hand und befreite ihn schnell und geschickt von seinem Federkleid.
»Wo hast du das gelernt?«, fragte Bruder Benedikt nicht weniger erstaunt.
»In der Palastküche. Mit dem Schwert bin ich allerdings noch schneller. Und das zeige ich dir auch gleich, wenn du nicht endlich zu reden anfängst.«
»Das glaube ich dir auch so.« Der Mönch gab sich unbeeindruckt. »Nun denn. Es war an einem schönen Junitag, als ich am Flussufer entlangwanderte. Die Sonne brannte, mir taten die Füße weh, also kühlte ich sie im Wasser. Und wie ich so dastand, sah ich am gegenüberliegenden Ufer einen schmächtigen, halb nackten Mann ins Wasser gehen. Er hatte nur etwas Weißes um die Hüften geschlungen und trug so
etwas wie ein Bündel unter dem Arm. Mehr ließ sich auf die Entfernung nicht erkennen.« Eingehend betrachtete er eine besonders schöne Schwanzfeder, zog sie durch die Finger und legte sie sorgfältig zu den anderen in einen Beutel. »Plötzlich verschwand er. Ich schaute und schaute, aber er tauchte nicht wieder auf. Es war wohl eine Fügung Gottes, dass sich ganz in der Nähe ein Boot befand, also schob ich es ins Wasser und ruderte zu jener Stelle, was für meine ungeübten Arme eine entsetzliche Anstrengung war.«
Er widmete sich dem nächsten Vogel. Anschar, der inzwischen zwei Stück gerupft hatte, spießte ihn mit seinem Blick auf, während Grazia an ihrem Daumennagel nagte.
»Da war ein Licht«, sprach er endlich weiter. »Kreisrund und in der Sonne kaum zu erkennen, aber ich wusste sofort, das ist nicht natürlichen Ursprungs. Ein Wunder? Ich beugte mich über den Bootsrand, griff ins Wasser, und dann …«
»Verspürtest du einen Sog?«, fragte sie atemlos.
»Erst einmal verlor ich recht unziemlich das Gleichgewicht. Im Wasser zerrte dann tatsächlich etwas an meinen Füßen. Ich schrie sämtliche Heiligen um Hilfe an, klammerte mich ans Boot, aber umsonst. Was dann passierte, nun, das weißt du ja.« Er deutete zu den Felsen hinauf. »Ein ganzes Stück in nördlicher Richtung, von hier aus gesehen, kam ich heraus. Die Lichtsäule verschwand daraufhin vor meinen Augen, und ich kletterte voller Panik einen ganzen Tag in den Felsen herum, bis ich plötzlich wieder auf sie stieß. Hier an diesem Ort.«
»Und dann?«
»Dann habe ich erst einmal meinem Herrgott auf Knien gedankt und mich in die Lichtsäule gestellt.« Er legte seinen Vogel in den Korb zurück und ließ Anschar die restliche Arbeit tun. »Und tatsächlich, ich kam wieder im Wasser heraus, an derselben Stelle. Aber was half mir das?« Als sei es erst
gestern geschehen, machte er runde Augen und griff sich ans Herz. »Das Boot war fort! Ich kann nicht schwimmen, wie hätte ich also ans Ufer kommen sollen, so nah es auch war? Da war ein Steg, aber ich konnte ihn nicht erreichen. Ich kam ja nicht einmal aus dem Lichtkreis heraus! Mir blieb nichts anderes übrig, als mich wieder hinabziehen zu lassen. Ja, und somit bin ich hier gestrandet. Das ist nun siebzehn Jahre her.«
»Warum hast du nicht schwimmen gelernt und es noch einmal versucht?«, wollte Anschar wissen.
»Ein guter Einwand, mein Freund. Das hätte ich sofort getan, wäre ich hier nicht wiederum woanders herausgekommen. Ganz woanders diesmal; nach Scherach verschlug es mich, und es dauerte ein paar Monate, diesen Ort wiederzufinden. In all der Zeit habe ich allerdings nicht schwimmen gelernt, sondern mich mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass es Gottes Wille sein könnte, hier zu leben und diesen gottlosen Menschen zu predigen. Leider hat sich gezeigt, dass der Boden des Hochlandes, was das betrifft, alles andere als fruchtbar ist. Sie wollen einfach nicht von ihren Baalen und Ascheren lassen. Wie dem auch sei, ich fand heraus, dass das Tor hier seinen festen Ort hat, an den es zurückkehrt, nachdem es irgendwo seinen Gast abgeladen hat. Als ich es wiedergefunden hatte, ging ich noch zweimal hindurch, doch das Ergebnis war jedes Mal das gleiche: Ich kam immer an derselben Stelle in der Havel heraus. Machte ich wieder kehrt, zurück in diese heidnische Welt, landete ich immer woanders und musste erst hierher zurückkehren. Das Spiel ging allerdings nur kurze Zeit, denn
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