Das gläserne Tor
beherrschst du auch so gut wie nicht. Selbst wenn du irgendwo als Knecht auf einem Bauernhof unterkämst, wo du dann Vögel rupfst, was würde uns das helfen? Es würde dir in meiner Welt schlecht ergehen, und schon gar nicht würde man zulassen, dass wir zusammen sind. Niemals!«
Er schnürte den zweiten Schuh und setzte das Bein ab. Noch blieb er unten, seine Hand glitt über ihre Wade und
verharrte in ihrer Kniekehle. Nie war sie so berührt worden, und es lähmte sie. Lass mich nicht los, dachte sie. Er hob den Kopf. Sie sah ihn an und fragte sich, ob in ihrem Gesicht der Abschiedsschmerz auch so deutlich zu lesen war wie in seinem.
»Ich weiß, dass es nicht geht«, sagte er dann. »Aber ich musste es ansprechen. Ich musste von dir hören, dass es unmöglich ist. Sonst hätte ich ewig darüber nachgedacht.«
Sie nickte. »Ich verstehe.« Es erleichterte sie, und doch wieder nicht. Erneut klopfte es an der Tür. Friedrich sagte nichts, aber sie wusste, dass er es war. Anschar stand auf und zog sie hoch. Während seine Finger sich mit ihren verflochten, zupfte er an ihrem Kragen und den Puffärmeln.
»Das wird alles nass. Solltest du das nicht besser auch in Leder packen?«
»Nein, das geht nicht anders. Ich kann mich doch nachher nicht im Freien umziehen.«
»Ach ja.« Er lächelte trübselig. »Natürlich kannst du das nicht.«
»Hier.« Sie angelte die Uhr von der Pritsche und drückte sie ihm in die Hand. »Damit du etwas von mir hast. Eigentlich gehört die ja Justus, aber er wird das verstehen.«
»Ich danke dir.« Er strich mit dem Daumen über den Deckel. »Ich hoffe nur, du schenkst mir nicht wieder etwas, das ich dann … verliere. Dein verdammtes Buch mit dem Bildnis darin vermisse ich immer noch.«
»Das Bildnis?«
»Ja, von dir und deiner Familie.«
»Oh.« Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie diese Photographie bei sich gehabt hatte. Und Mallayur hatte sie verbrannt? »Das tut mir leid. Aber die Uhr nimmt dir niemand weg, wenn du das nicht willst.« Sie berührte seine Wange, die sich so vertraut anfühlte. Ihre Finger schienen mit seiner Haut
zu verschmelzen, wie um jede Einzelheit aufzunehmen. Die Fingerspitzen, so oft von ihren Zähnen malträtiert, glühten, als er sie an die Lippen führte. »Bitte, versprich mir, dass du nie nach Heria zurückgehst. Nicht einmal nach Argadye. Du musst frei sein.«
»Ich verspreche es«, sagte er kehlig, nahm die Hand herunter und wickelte die Kette um sein Handgelenk. »Ich würde dir auch gern etwas geben, leider habe ich nichts. Aber eines sollst du haben: den Schmuck meiner Mutter. Auch wenn du ihn in deiner Welt wohl nicht wirst tragen können.«
Wehmütig musste sie auflachen. »Nein, das ginge wohl nicht.«
Wieder klopfte es. Friedrich rief von draußen, sie möge sich beeilen. Sie rechnete damit, dass Anschar ihm eine gebrüllte Antwort gab, doch die blieb aus.
»Geh schon, Feuerköpfchen.«
Sie wandte sich ab, schaffte zwei Schritte, und einen Augenblick später lag sie an seiner Brust. »Nein! Nein!« Der Rest von all dem, was ihr noch auf der Zunge lag, ging in einem verzweifelten Aufschluchzen unter. Anschar drückte sie so fest an sich, dass sie kaum atmen konnte. Ihr Gesicht versank in seiner Halsbeuge. Schmerzhaft bohrten sich seine Fingerkuppen in ihren Hinterkopf. Es tat so gut, und es war so furchtbar. Als er ihre Arme lockerte, glänzten seine Wangen.
»Ich bringe dich hinauf.« Auch seine Stimme klang alles andere als fest. »Ich will sehen, wie du gehst.«
Sie wusste nicht, wie sie es schaffte, sich von ihm zu lösen, aber schließlich ging sie mit unsicheren Schritten zur Tür und öffnete sie. Friedrich stand einige Schritte entfernt, mit ihrer Tasche an der Schulter. Ihr entging nicht, dass er Anschar ziemlich unverblümt anstarrte. Was war an ihm anders als vorher? Natürlich, das verweinte Gesicht. Sie hoffte, dass Friedrich darüber keine Bemerkung machte, aber er nickte
ihr nur zu und streckte die Hand nach ihr aus. Grazia ergriff sie und ließ sich von ihm den steinigen Hang hinaufführen. Es fiel ihr in ihren Stiefeletten nicht leicht, einige Male glaubte sie das Gleichgewicht zu verlieren. Anschar blieb dicht hinter ihr, was sie wesentlich mehr als Friedrichs Gegenwart beruhigte. Trotzdem atmete sie auf, als sie das Tor erreicht hatten. Bruder Benedikt wartete bereits, mit dem Kruzifix in den gefalteten Händen.
Die Lichtsäule erhob sich über dem felsigen Untergrund, sanft schimmernd. Wie aus Glas, hatte
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