Das gläserne Tor
Benedikt rümpfte hörbar die Nase. »Du hast dir darüber noch keine Gedanken gemacht?«
»Sie wünscht sich, dass ich frei bin. Es war ihr aber nie bewusst, dass ich das hier nicht sein kann. Mir schon. Die Hochebene ist klein – jedenfalls klein im Vergleich zu eurer Welt. Es gibt hier keinen Ort, wo ein entlaufener Sklave leben könnte.«
»Warum hast du ihr das nicht gesagt?«
»Hättest du das getan?«
»Nein«, räumte Benedikt nach einigem Zögern ein und kratzte sich die Stirn. »Aber du musst doch irgendein Ziel haben.«
»Ein Sklave hat kein Ziel. Jetzt soll ich mir eins ausdenken, das ist gar nicht so einfach. Ich werde wohl den Weg nach Nordwesten nehmen, etwas anderes bleibt mir kaum übrig. Dann sehe ich weiter. Vielleicht lässt es sich in Praned eine Weile untertauchen.«
Er glaubte es nicht. Es dürfte auf der gesamten Hochebene keinen einzigen Ort geben, wo man einen entlaufenen Sklaven nicht augenblicklich hinrichtete oder gebunden zurückschickte. Sein Herr würde dafür sorgen, dass überall bekannt wurde, wer er war. Die verfluchte Tätowierung ließ sich kaum verbergen.
»Du könntest in die Wüste gehen«, sagte Benedikt.
»Eher würde ich …«
Anschar stockte. Hufgetrappel ertönte von unten aus dem Tal. Er schnellte hoch, rannte zwischen den Bäumen hindurch und schlich geduckt auf den Abhang zu. Da waren sie, die zwanzig bis an die Zähne bewaffneten herschedischen Reiter. Und sie waren nah. Viel zu nah.
Er lief zu Benedikt zurück. »Irgendjemand unter ihnen fand deine Erklärung wohl doch nicht glaubwürdig.«
»Allmächtiger«, murmelte Benedikt und legte die Hände aneinander. »Jetzt musst du wohl doch durchs Tor.«
»Dazu ist es zu spät. Ich kann nicht mehr unbemerkt
hinaufklettern. Sie würden es entdecken und mir folgen. Ich werde einen Dreck tun und Grazia gefährden, indem ich Mallayurs Häscher in ihr Reich locke.«
»Dann nimm das Pferd. Um Gottes willen, schnell!«
Sie hasteten in den Stall. Benedikt legte der Stute das Zaumzeug um, Anschar warf ihr den Sattel über und gürtete ihn mit fliegenden Fingern. Noch im Aufspringen riss er das Schwert aus der Scheide, nahm die Zügel an sich und gab dem Tier die Fersen. Es sprang gehorsam aus dem Stall, galoppierte über die Lichtung hinweg und zwischen der Baumreihe hindurch. Der Weg nach Nordwesten wirkte mit einem Mal wie eine Verheißung.
Die Reiter hatten den Abhang bereits überwunden und waren im Begriff, sich aufzufächern und ihm den Weg abzuschneiden. Anschar trieb die Stute an, um hindurchzupreschen. Doch sie war verwirrt und drohte zu steigen. Er sah sich zehn gespannten Bogen und ebenso vielen Speeren gegenüber.
»Nicht schießen!«, hörte er Benedikt rufen. »Tut ihm nichts, vergießt kein Blut!« Der Priester war im Begriff, mit wedelnden Armen heranzulaufen. Ein Reiter hielt ihn mit der Flanke seines Pferdes auf, zog sein Schwert und befahl ihm mit der ausgestreckten Klinge, die auf seine Kehle deutete, stehen zu bleiben.
Anschar zügelte die unruhige Stute dicht an der Felswand. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Ihm blieb nur noch, in den Tod zu gehen und möglichst viele der Herscheden mitzunehmen. Wenn er das Pferd besser unter Kontrolle bekam, konnte er an der äußersten Flanke anfangen und sich bis zur Mitte durcharbeiten. Auf diese Weise waren sicherlich sieben oder acht Krieger zu schaffen, bis er, gespickt von Pfeilen und Speeren, fallen würde.
»Wirf dein Schwert weg und ergib dich«, rief einer der
Männer. »Das befehle ich dir im Namen deines Herrn Mallayur, Sklave. Wir sollen dich lebend und unversehrt zu ihm bringen.«
Der verhasste Name brachte Anschar dazu, auf den Boden zu spucken. »Damit er länger Freude an der Folter hat? Der Fluch möge sein Land verdorren lassen und seine scheußliche Seele dazu!«
»Ergib dich, Sklave!«
Das Wort saß zu tief und zu fest; wie eine stachelige Kette hakte es sich in sein Herz. Nicht im Kampf, wie es einem der Zehn angemessen war, würde er sterben, sondern durch die strafende Hand seines Herrn. Der Griff seines Schwertes wurde schlüpfrig, als er das erkannte. Kalter Schweiß lief ihm den Rücken hinab.
Nein, dachte er. Es kann so nicht enden. Ich bin einer der Zehn. Ich bin der Erste der Zehn!
» Sklave! Weg mit dem Schwert!«
Es musste so enden.
Er streifte die Uhrkette über seine Finger. Hinter seinem Rücken ließ er die Hand kreisen, bis die Uhr hinunterfiel. Dann schleuderte er das Schwert von sich. Auch den Dolch zog er
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