Das gläserne Tor
Sildyu gesagt, und so war es. Ein gläsernes Tor reckte sich in den Himmel, ein wenig zitternd, pulsierend – es schien zu leben. Nach wenigen Metern verlor es sich in der Luft, als verschwinde es im Nebel. Nur dass dort keiner war.
»Es ist das erste Mal, dass ich das Tor von außen sehe«, sagte Grazia und drehte sich zu Anschar um. »Es ist schön, findest du nicht?«
Angesichts dieses Wunders nickte er nur. Solchermaßen beeindruckt hatte sie ihn bisher noch nicht gesehen. Dennoch riss er sich von diesem Anblick los, nahm ihren Kopf in die Hände und küsste ihre Stirn, ganz so, wie er es damals auf der Brücke getan hatte.
»Möge der Herr es gelingen lassen«, sagte Bruder Benedikt und stimmte das Paternoster an.
»Komm jetzt«, drängte Friedrich.
Anschar ging zu ihm und sah ihn so finster wie eh und je an. Friedrichs Adamsapfel zuckte, während er zu ihm aufsah. Er war um einen halben Kopf kleiner und schien unter dem stechenden Blick noch zu schrumpfen.
»Zeig ihr … dass du es wert bist«, sagte Anschar auf Deutsch.
Grazia stand der Mund vor Staunen offen. Er hatte den Satz fehlerfrei und fast flüssig ausgesprochen. Auch Friedrich
war überrascht; er schluckte noch heftiger und konnte nichts erwidern.
Anschar wandte sich von ihm ab, strich Grazia im Vorbeigehen über die Wange und kehrte dem Tor den Rücken zu. Dann drehte er sich noch einmal um. Seine Gesichtszüge waren das Erste, das sie in dieser Welt gesehen hatte, und sie würden das Letzte sein. Sie fühlte sich von Friedrich gepackt und in das Licht gezerrt. »Nein, nicht so schnell!«, rief sie, da riss ihr der Sog die Worte von den Lippen. Anschar! Anschar! Von gleißendem Licht umhüllt, ging ein Ruck durch ihren Körper. Sie warf den Kopf in den Nacken und erblickte in der Höhe ein schwarzes Loch. Eine Kraft hob sie vom Boden, ließ sie darauf zuschnellen. Friedrich stieß einen Angstschrei aus und streckte abwehrend eine Hand nach oben. Die Grenze zwischen den Welten war wie ein drohender, alles verschlingender Schlund. Auch Grazia schrie, riss die Arme hoch und fühlte ihre Finger hindurchgleiten. Dann waren nur noch Schwärze und Wasser um sie herum.
Anschar hatte damit gerechnet, dass sich das Tor schließen und verschwinden würde, sobald Grazia und Friedrich darin waren. Das war natürlich unsinnig, denn wann es sich schloss, lag allein in der Hand des Gottes, und so leuchtete und pulsierte es unvermindert vor sich hin. Er trat näher und berührte die Lichtsäule. Sie fühlte sich nach nichts an, nur ein wenig kalt. Langsam schob er seine Finger hinein. Ein leichter Sog war zu spüren.
»Nicht!«, schrie der Priester hinter ihm. »Bist du verrückt?«
»Warum?« Anschar zwang sich, die Hand zurückzuziehen. »Fändest du es so abwegig?«
»Mein Freund, das hat doch keinen Zweck. Komm.« Benedikt drückte das Symbol seines Gottes an die Lippen und band es wieder an seinen Gürtel. Sie machten sich an den Abstieg. Unten angekommen, strich er sich mit einem weißen Ärmel über die Stirn. Sein Gang war zittrig. »Gott hätte sich für den Standort seines Tores wahrhaftig eine leichter zugängliche Stelle aussuchen können. Ich bin dafür doch zu alt.«
Sie kehrten zur Hütte zurück. Anschar ließ sich auf eine der Bänke fallen und lehnte den Rücken an den Tisch. Er hatte hier nichts mehr verloren, aber noch trieb ihn nichts an. Es war angenehmer, auf der Bank zu sitzen und das Gesicht in die Sonne zu halten.
»Du fühlst dich jetzt schlecht«, sagte Benedikt, der sich an seine Seite gesetzt hatte.
»Ja und nein. Ich könnte losschreien, dass sie weg ist. Gleichzeitig bin ich aber erleichtert, sie zum Ziel geführt zu haben. Ihr ist nichts passiert, sie geht nach Hause. Darüber sollte ich froh sein.« Anschar stutzte, sah den Mönch an und legte wieder den Kopf in den Nacken. »Benedik! Wie komme ich bloß dazu, dir das zu erzählen?«
»Ach, weißt du, mir haben schon Viele ihr Herz ausgeschüttet. Das ist mein Dienst an den Menschen, und das tat ich auch in meinem alten Leben. Ehrenrührig ist es nicht, wenn du deine Seele erleichterst. Wohin wirst du jetzt gehen?«
Anschar hob die Schultern. Er befingerte die Uhr an seinem Handgelenk, klappte sie auf, betrachtete die fremden Zeichen und ließ sie wieder zuschnappen. Morgen früh würde er sie eine Stunde zurückstellen. Aber nicht, weil er das irgendwie nützlich fand. »Das wissen die Götter«, sagte er schließlich.
»Deine Götter helfen dir nicht.«
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