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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Augen. »Ach, ein steiniges Land ist das hier, fürwahr! Warum nur hat mich dieses Tor nicht in irgendeinem Land jenseits der Wüste abgeladen? In ein fruchtbareres als dieses hier.«
    »Da draußen ist nur Wüste, und die ist nicht fruchtbar«, sagte Anschar.
    »Gottes Wort ist wie ein Samenkorn des Felsengrases – es kann überall Halt finden, wenn die Zuhörer es nur wollen. Ja, ich weiß, das hast du nicht gemeint. Außerdem ist dort nicht nur Wüste.«
    »Temenon? Das ist zu weit weg.«

    »Ach, Temenon. Diese Welt dürfte sehr viel größer sein als das, was man landläufig von ihr kennt.«
    »Was redest du da für einen Unsinn?«, brauste Anschar auf. »Außerhalb der Wüste gibt es nichts. Was sollte da sein?«
    »Vielleicht das Meer?«
    »Es gab …«
    »Ja, ich weiß.« Bruder Benedikt winkte ab. »Ihr glaubt, es sei verschwunden, vor Hunderten von Jahren. Aber sag mir, woher wollt ihr das wissen, wenn niemand, nicht einmal die Wüstenmenschen, das Ende der Wüste gesehen haben?«
    »Die Priester haben das gesagt.«
    »Heidnische Priester!« Der Mönch ballte vor Anschars Nase eine Faust. Grazia hielt den Atem an. Das sollte er besser nicht tun. »Mag sein, dass es kein Meer gibt. Aber glaubst du wirklich, dass diese Welt nur Wüste birgt? Wüste und darin ein einziges Hochland, das eine hochentwickelte Kultur hervorgebracht hat? Ein Land, das im Vergleich zu dieser Faust so groß wie ein Sandkorn ist?«
    Anschar schob die Faust beiseite. »Du scheinst mir ein Träumer zu sein. Bleib lieber hier und hüte weiterhin das Tor.«
    »Ja. Was das betrifft, hast du vielleicht recht.«
    »Wie kommt es, dass dich hier immer wieder Leute aufsuchen, aber niemand weiß, wo das Tor ist?«, fragte Grazia.
    »Wer soll es finden? Ich sage nicht, wo es ist, und von allein kommt keiner auf die Idee, die Felsen hochzusteigen.«
    »Grazia.« Friedrich, der bisher zu allem geschwiegen hatte, legte so unvermittelt eine Hand auf ihren Arm, dass sie zusammenzuckte. »Worauf warten wir eigentlich? Ich denke, ich schaffe es jetzt, auf die Felsen zu kommen. Am liebsten würde ich es gleich versuchen.«
    »Bitte nicht! Lass uns bis morgen warten.« Sie spürte seinen bohrenden Blick und fügte hastig hinzu: »Morgen
geht es dir bestimmt besser, und dann schaffst du es leichter hinauf.«
    »Ich habe den Eindruck, als hättest du es gar nicht so eilig, zurück zu deiner Familie zu kommen.«
    Es hatte vorwurfsvoll geklungen. »O doch … doch, natürlich«, stammelte sie hilflos und sah erschrocken auf, als Anschar ein Bein über die Bank warf und die Lichtung verließ.
    »Warum läuft er eigentlich dauernd da vorne hin und beobachtet das Tal?«, fragte Bruder Benedikt.
    »Weil er verfolgt wird«, erwiderte sie auf Argadisch. Bevor Friedrich fragen konnte, warum sie die Sprache gewechselt hatte, sprang sie auf und rannte ebenfalls zwischen den Bäumen hindurch. Am Hang sah sie Anschar stehen, ein dunkler Schatten im schwindenden Abendlicht. Er schien sie nicht zu bemerken, als sie den Weg nordwärts einschlug, um sich abseits auf einen Stein unter der Felswand zu setzen und still in sich hineinzuweinen.

    Der Tag, den sie vor einem Jahr so sehr herbeigesehnt hatte und jetzt verfluchen wollte, brach an. Sie hatte kaum geschlafen auf der Pritsche in der Hütte, während sich die drei Männer mit einem Schlafplatz auf der Lichtung begnügt hatten. Anschar schien am wenigsten geschlafen zu haben, denn er sah müde aus, als sie aus der Hütte trat und ihn begrüßte. Friedrich stand an einer Quelle, rieb sich die untere Gesichtshälfte mit Schaum aus Seifenkraut ein und prüfte mit dem Daumen die Schneide eines Rasiermessers.
    Anschar sah aus einiger Entfernung zu, wie er sich rasierte. Sowie Friedrich fertig war und das restliche Seifenkraut mit einem Tuch entfernt hatte, ging Anschar zu ihm und streckte auffordernd die Hand aus. Mit äußerster Wachsamkeit gab Friedrich ihm das Messer und beobachtete seinerseits, wie er sich die Bartstoppeln entfernte. Anschar bemerkte es, denn
er wandte sich um, doch streifte sein Blick Friedrich nur, während er an Grazia hängen blieb. Lange und bohrend. So durfte er sie nicht ansehen. Nicht in Friedrichs Gegenwart. Aber darum scherte er sich natürlich nicht. Sie war froh, Bruder Benedikt aus der Hütte treten zu sehen. Im Laufen faltete er ein Ledertuch auseinander und legte es auf den Tisch.
    »Sie haben gesagt, liebes Fräulein Grazia, dass Sie ein Bündel Zeichnungen haben«, rief er sie auf

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