Das gläserne Tor
denn um etwas behalten zu wollen, musste man es erst haben. Wenn sie sich nicht täuschte, befand sich der Schmuck noch im Besitz ihres Vaters. »Anschar würde …«
Friedrich stieß ein Grollen hervor und stellte sein Glas so heftig ab, dass das Bier überschwappte. »Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du ihn vergessen sollst? Glaubst du, ich will eine Ehe mit einer Frau führen, die ständig von einem anderen plappert?«
»Entschuldige.« Grazia zerrte aus ihrem Ärmel ein Batisttüchlein hervor und presste es an die Lippen. »Es wird nicht wieder vorkommen. Ich finde allein nach Hause.«
Aufschluchzend sprang sie auf, griff nach ihrem Schirm und marschierte zum Ausgang.
»Grazia!«
Er fluchte verhalten. Münzen klimperten, als er sie auf den Tisch warf. Der Kies knirschte unter seinen Schritten. Sie warf
einen Blick zurück, und als er sie fast erreicht hatte, spannte sie den Schirm auf und legte ihn sich über die Schulter. Es hielt ihn nicht auf; er packte ihren Ellbogen und hielt sie fest.
»Lass mich!«
»Grazia, komm zur Vernunft.« Er schüttelte ihren Arm. Als sie sich losriss und zu ihm umdrehte, starrte er sie so wütend an, dass sie glaubte, er werde sie ohrfeigen. »Wie kannst du wegen dieses Neandertalers so eine Szene machen!«
»Neandertaler? Neandertaler? « Hatte sie das wirklich gehört? Hatte er das wirklich gesagt? »O Friedrich!«, schrie sie, die Stimme von den Tränen kaum kenntlich. »Das verzeihe ich dir nie!« Sie zerrte den Verlobungsring vom Finger und warf ihn vor seine Füße. Dann lief sie weiter, so schnell es ihre Röcke zuließen. Diesmal folgte er ihr nicht.
Ihr Kopf war wie leer gefegt. Nicht einmal Vorwürfe fanden sich darin. Sie sah nur das Grün des Waldes vorbeirauschen, hörte das Rattern der Schienen und spürte irgendwo in sich einen dumpfen Schmerz. Ihre Erstarrung löste sich erst, als der Zug an der Endstation Potsdamer Bahnhof hielt. Nur noch eine kurze Zeit trennte sie von ihrem Zuhause und einem handfesten Skandal. Der nette Backfisch, der sich von einem Tag auf den anderen in ein fremdes Wesen verwandelt hatte und seine Lieben beschämte. »Mist!«, stieß sie laut und vernehmlich hervor, als sie auf dem Bahnsteig stand. »Und was tue ich jetzt?«
Womit sie die Rückkehr noch ein paar Stunden hinauszögern konnte, das zumindest wusste sie. Entschlossen spannte sie den Sonnenschirm auf, hob die Nase und tauchte ein in das pralle Leben Unter den Linden. Wenn sie Glück hatte, bekam sie schicke Offiziersuniformen, ellenlange Pferdegespanne und stolze Reiter zu sehen. Heute war kein Feiertag;
trotz Hohenzollernwetter würde sie den Kaiser wohl nicht zu Gesicht bekommen. Aber auch ohne Parade war die Allee mit ihren vier Baumreihen und den barocken und klassizistischen Prachtbauten einen Besuch wert. Was der Meya wohl dazu sagen würde? Was war dagegen der Boulevard von Argadye mit seinen blau glasierten Pfeilern und den Statuen des Schamindar?
Winzig, dachte Grazia. Archaisch. Babylonisch. Schöner. Sehnlichst wünschte sie sich dorthin zurück. Und das lag nicht nur an dem Donnerwetter, das sie erwartete.
Was Friedrich wohl tat? Vielleicht klopfte er in diesem Augenblick an die Wohnungstür ihrer Eltern, um seiner Empörung Luft zu machen. Vielleicht hockte er auf den Treppenstufen, weil niemand zu Hause war. Vielleicht kam er auf die gleiche Idee wie sie und suchte hier Ablenkung. Grazia wirbelte auf dem Absatz herum, als stünde er hinter ihr. Auf der anderen Straßenseite entdeckte sie eine Buchhandlung, und ehe sie es sich versah, war sie darin verschwunden.
Tief atmete sie den vertrauten Geruch ein, während sie den Schirm schloss und über den Arm hängte. Hier war sie schon oft gewesen. Regale voller Bücher, Tische voller Bücher. Am liebsten ging sie in die geschichtliche Ecke und hielt nach Homer Ausschau. Sie zog eine Ausgabe der Ilias aus dem Regal, die sie noch nicht kannte, und betrachtete die Illustrationen. Antike Recken im Zweikampf, bewaffnet mit Speeren und Schwertern … Aufseufzend stellte sie das Buch wieder zurück. Würde sie je wieder ein solches Werk in die Hand nehmen können, ohne an Anschar zu denken?
»Wertes Fräulein, kann ich helfen?«
Grazia wandte sich dem Buchhändler zu. »Wenn der Herr so freundlich wäre? Ich möchte den dritten Band der Wanderungen durch die Mark Brandenburg kaufen.«
»Nur den dritten?«
»Die anderen habe ich, nur den Havelland-Band hatte ich verschenkt.«
»Der ist ja auch besonders
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