Das gläserne Tor
Birnen eigentlich zweideutig gemeint?«
An den Seiten seines Schnurrbartes blitzten die Mundwinkel hervor. »Wie kommen Sie denn darauf?«, rief er entrüstet und stand zackig auf. Er marschierte an einen Büchertisch. Hatte sie ihn beleidigt? Aber da kam er zurück und hielt ihr ein Buch hin. Sie nahm den Schutzumschlag ab. Hervor kam ein blauer Einband, darauf eine wunderschöne Federzeichnung in Schwarz und Gold.
»Effi Briest?«
»Das ist auch so eine Herzschmerzgeschichte«, sagte er mit einem stolzen Lächeln. »Machen Sie einem alten Mann die
Freude und lassen Sie es sich von mir schenken. Einen Stift zum Signieren müsste ich auch irgendwo haben.« Suchend klopfte er auf seine Rocktaschen.
Die unverhoffte Begegnung hatte spätestens an der Wohnungstür ihren Reiz eingebüßt. Wie gerne wäre Grazia hineingeplatzt, um davon zu erzählen. Aber vor ihrem inneren Auge lag ein riesiger Schuttberg, den es erst zu überwinden galt. Augen zu und durch, sagte sie sich, blähte die Backen und drehte die Türklingel. Draußen war es dunkel geworden, aber ihr langes Fortbleiben würde in dem zu erwartenden Drama keine Rolle spielen. Ihr wäre um eine Winzigkeit wohler, wüsste sie, was Friedrich in der Zwischenzeit getan hatte. Aber auch das spielte im Grunde keine Rolle. Sie hörte Adeles schnelle Schritte. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
Die Tür flog auf. »Fräulein Grazia, da sind Sie ja endlich! Ihr Herr Vater wartet seit Stunden auf Sie.«
»Das kann ich mir denken.« Grazia reichte ihr den Sonnenschirm und das Handtäschchen.
»Glaube ich nicht.« Adele half ihr aus dem Jäckchen. »Da wartet Besuch auf Sie.«
»Herr Mittenzwey?« Jetzt schlug ihr das Herz in den Ohren, sodass sie rauschten.
»Nee, der Herr Archäologe hat sich nicht blicken lassen.«
»Den ganzen Tag nicht?«
»Nee, sag ich doch. Ihre Frau Mutter hat sich mit Kopfweh hingelegt.«
Was war nun davon zu halten? Egal, dachte sie. Wenn Friedrich schmollen wollte – bitte. Das konnte sie auch. Sie wappnete sich innerlich und betrat den Salon. Ihr Vater saß am Esstisch, auf dem eine Cognacflasche und zwei Gläser standen. Er winkte sie näher, aber ihre Füße bewegten sich nicht. Sie starrte auf den Gast im weißen Habit.
»Bruder Benedikt«, hauchte sie und rang vergebens nach Luft. Ihr wurde schwarz vor Augen. Hart schlug sie auf dem Wohnzimmerteppich auf. Das brachte sie wieder ein wenig zur Besinnung. Der stechende Ammoniakgestank, der plötzlich vor ihrer Nase auftauchte und sie zu einem tiefen Atemzug veranlasste, tat ein Übriges. Ihr Vater beugte sich über sie und klopfte ihre Wange.
»Geht’s wieder, Kindchen?«
»Papa, ich habe Friedrich die Verlobung aufgekündigt.«
»Du hast was? Adele, lassen Sie für meine Gattin das Riechsalz da.«
Er half ihr aufzustehen und geleitete sie an den Tisch. Adele starrte sie an, als sei sie aus einer anderen Welt. Was ja irgendwie stimmte. Bruder Benedikt war aufgestanden. Sein Habit war weitgehend getrocknet, verströmte aber noch den Geruch erdigen Havelwassers.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken, Fräulein Grazia.« Er rückte ihr einen Stuhl zurecht, auf der ihr Vater sie absetzte. »Aber das ließ sich wohl nicht vermeiden. Heute Mittag bin ich an Land geschwommen.«
Warum? Warum? Sie steckte den Daumennagel in den Mund und wollte zu nagen anfangen, aber ihr Vater zog ihre Hand weg.
»Hör auf, an deinen Fingern zu kauen.«
»Entschuldige.« Sie verschränkte die Hände im Schoß. »Bruder Benedikt, wie konnten Sie mich finden?«
»Ich habe einfach den Fährmann gefragt, ob er in letzter Zeit zwei Leuten begegnet ist, die nass waren. Danach war es einfach, wenn man davon absieht, dass die Berliner einem katholischen Ordensbruder ziemlich stoffelig begegnen. Von Ihrem Herrn Vater natürlich abgesehen. Liebes Fräulein Grazia, ich habe keine guten Nachrichten.«
»Anschar«, flüsterte sie. »Es ist seinetwegen.«
»Er wurde von einem herschedischen Trupp gefangen genommen, kaum dass Sie fort waren.«
»Nein«, keuchte sie. »Nein! O Gott, nein.«
»Ich fürchte, doch. Sehen Sie.« Er zog etwas unter seinem Skapulier hervor und legte es auf den Tisch. Die Uhr. »Er hatte sie weggeworfen, damit sie nicht in die Hände der Herscheden fällt.«
Die Ohnmacht wollte sie wieder umfangen, doch sie schaffte es, sitzen zu bleiben. Nur langsam drang der Inhalt der Worte vollständig in ihr Inneres vor. Gefangen. Von Mallayur. Zurück in die Sklaverei, was immer das hieß –
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