Das gläserne Tor
der Kerker oder die Werkstätten. Oder der Tod? Gewiss nicht, Anschar war trotz allem einer der Zehn. Sie nahm die Uhr so vorsichtig an sich, als könne sie sie zerdrücken. »Hat man gesagt, was mit ihm geschieht?«
»Nein. Sie haben ihn gefesselt und sind wieder abgezogen. Gelungen ist ihnen das wohl nur, weil er noch ganz benommen von Ihrem Fortgehen war, glaube ich. Ich habe lange im Gebet mit mir gerungen, ob ich Ihnen das überhaupt sagen soll. Aber ich denke, es war meine Pflicht, obwohl ich mir immer noch nicht sicher bin, das Richtige getan zu haben.«
»Natürlich war es richtig! Auch wenn ich nicht weiß, wie ich den Gedanken aushalten soll.« Sie starrte auf die Cognacflasche. Rüdesheimer Cognac. Stärkeres als Wein hatte sie noch nie getrunken. Ein paar Sekunden später hatte sie sich etwas eingeschenkt und hob den Schwenker an die Lippen.
»Grazia!«, rief ihre Mutter in ihrem Rücken. »Was, um alles in der Welt, tust du da?«
Sie drehte sich um. Im gleichen Moment ging der Leuchter über ihrem Kopf an. Ihre Mutter stand in der Tür, den Finger am Drehschalter. Bruder Benedikt verzog angesichts des ungewohnten elektrischen Lichts das Gesicht und rieb sich die Augen.
»Mutter.« Grazia trank das Glas in einem hastigen Zug leer. »Ich habe Friedrich in die Wüste geschickt.«
Der Vater nahm ihr das Glas aus der Hand und verpasste ihr eine Backpfeife, dass ihr die Ohren klingelten. Das hatte er zuletzt vor Jahren getan. Sie schlug die Hände vors Gesicht, aber die Tränen blieben aus, sie hatte heute genug geweint. Er eilte zu ihrer Mutter und nötigte sie, sich wieder hinzulegen, was sie auch tat.
»Tut mir leid, Kind«, sagte er in einem Ton, der eher resignierend als zornig klang. »Aber was nötig ist, ist nötig. Du machst deiner Mutter, seit du zurück bist, nur noch Kummer.«
»Es tut mir auch leid«, murmelte sie. Fast hätte sie sich wieder den Daumennagel zwischen die Zähne gesteckt, aber sie beherrschte sich. »Papa, ich muss zu Anschar.«
Er kratzte sich an der Schläfe. »Lass mich das sortieren. Die Herscheden, das sind diejenigen, die ihn versklavt haben. Und jetzt ist er wieder in deren Händen. Richtig?«
»Ja, richtig.«
»Daran kannst du doch gar nichts ändern.«
»Doch! Ich gehe zu Madyur-Meya und sage ihm, was passiert ist. Er wird Anschar helfen.« Was redete sie da? Wie oft hatte sie ihn bereits um Hilfe für Anschar angefleht? Was hatte er getan? Wenig bis nichts. Anschar war ein entlaufener Sklave, und die bestrafte man hart. In der Welt des Hochlandes war das recht und billig. Dennoch, sie konnte nicht tatenlos zusehen. Wenn Madyur nichts tat, würde sie sich eben Mallayur vor die Füße werfen. Immerhin besaß sie etwas, für das er sich brennend interessierte.
»Grazia.« Ihr Vater legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich nehme an, es würde dich nicht zufriedenstellen, wenn der Herr Mönch, der sich in jener Welt ja wohl bestens auskennt, diese Aufgabe übernähme?«
»Das würde ich natürlich tun«, sagte Bruder Benedikt. Er stand noch immer unter dem Lüster, die Hände in die Ärmel geschoben. »Ich fürchte nur …«
Sie fiel ihm ins Wort, bevor er Dinge sagte, die ihr Vater nicht wissen durfte. »Würde es nicht. Papa, ich will Anschar nicht nur geholfen wissen. Ich will bei ihm sein.«
Er setzte sich zu ihr an den Tisch und griff nach seinem Cognacglas. Eine halbe Ewigkeit schwenkte er es. Dann stellte er es beiseite, ohne getrunken zu haben, und zog eine Zigarre aus der Westentasche. Grazia beeilte sich, ihm das Streichholzetui und den gläsernen Aschenbecher zu bringen. Dabei rückte sie ihren Stuhl näher an ihn heran und hakte sich bei ihm unter.
»Versuch nicht, dich einzuschmeicheln.« Er zündete die Zigarre an und nahm einen tiefen Zug. »Du gehörst ja in feste Hände. Aber in feste hiesige.«
»Friedrichs Hände sind es aber nicht.«
»Da bist du dir so sicher?«
»Anschar wollte, dass Friedrich mir zeigt, dass er es wert ist. Ich weiß nicht, ob Friedrich es ist. Anschar ist es in jedem Fall. Er ist der Richtige.«
»Hm. Vielleicht hat deine Mutter ja recht. Dieser Anschar ist ein Zirkusmensch, und das alles ist inszeniert.«
»Papa!«
Er schmunzelte. »Du musst doch zugeben, dass Bruder Benedikt zum richtigen Zeitpunkt erschienen ist. Denn dass du Friedrich den Laufpass gegeben hast, ist ein Thema, das soeben klammheimlich im Hintergrund verschwindet.«
Bruder Benedikt räusperte sich. »Vielleicht sollte ich einen Spaziergang
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