Das gläserne Tor
gelungen. Nach der Lektüre möchte man am liebsten sofort hinaus auf die Pfaueninsel, nicht wahr?« Er lächelte geflissentlich und brachte ihr den dritten Band. Vorsichtig strich sie über den Einband, und noch vorsichtiger schlug sie die Seiten auf.
»Ich kenne die Pfaueninsel. ›Ein rätselvolles Eiland, eine Oase, ein Blumenteppich inmitten der Mark …‹, o ja, und ob ich sie kenne.«
Dieses Buch kannte sie noch besser. Sie hatte es Anschar in die Hände gedrückt. Und er hatte gesagt, dass er es vermisste. Weil er sie vermisste. Grazia versuchte sich zu beherrschen, aber das war ein hoffnungsloses Unterfangen. Lauthals brach sie in Tränen aus. Sie lief zu einer gepolsterten Bank unter dem Schaufenster, setzte sich und legte das Buch auf den Schoß. Wo war nur ihr Taschentuch? Fahrig kramte sie in ihrer Handtasche. Was sollten nur die Leute von ihr denken? Doch glücklicherweise war der Buchhändler zu anderen Kunden weitergezogen. Hier am Eingang war der Laden weitgehend leer, bis auf einen Mann, der sie schief beäugte.
»So etwas habe ich noch nicht erlebt«, sagte er.
»Was?« Gereizt sah sie auf. Ein hochgewachsener Mann in den Siebzigern stand vor ihr, mit lockigen weißen Koteletten und einem Schnurrbart, der seinen Mund vollkommen verdeckte. Er neigte den Kopf.
»Na, dass ein hübsches Fräulein über meinem Havelband Tränen vergießt. So schlecht ist er mir nun wirklich nicht geraten.«
»Ihr Band?«, fragte sie verständnislos, während sie das Tüchlein an die Wangen presste.
Er lüpfte den Hut. »Gestatten. Fontane, Theodor.«
»Was machen Sie denn hier?«, entfuhr es ihr. »Verzeihung,
ich bin, äh … Donnerlittchen, mir fällt jetzt gar nichts mehr ein.«
»Habe mich für ein paar Tage hier in der Nähe einquartiert. Nach mehreren Wochen Kur in Karlsbad brauche ich mal wieder das pralle Stadtleben um mich herum. Sonst vergreise ich ja noch. Oder wollten Sie wissen, was ich jetzt und hier in diesem Buchladen mache? Ach, ich wollte nur schauen, ob mein neuer Roman schon erhältlich ist und ob hier auch mehr als ein Exemplar herumliegt. Ein kleiner Eitelkeitsanflug, vergessen Sie es. Warum nun die Tränen, wenn die Frage erlaubt ist?«
Schon flossen sie wieder. Ihr Batisttuch war längst feucht. »Ich bin eine argadische Heulsuse geworden!«
»Argadisch? Nie gehört. Sie sind nicht von hier?«
»Doch, doch.« Grazia schnäuzte sich. »Ich bin eine echte Berliner Pflanze. Argad, das gibt es eigentlich gar nicht. Aber wenn ich in Ihrem Buch lese, muss ich daran denken, verstehen Sie?«
»Kein Wort. Ein paar Informationen mehr könnten hilfreich sein. Darf ich?« Er setzte sich an ihre Seite und legte eine abgenutzte Aktentasche auf die Knie. Hieß es nicht, er sei in sich gekehrt? Wenigstens jetzt war davon nichts zu merken. Ein helles Augenpaar musterte sie verschmitzt.
»Ich kann gar nicht glauben, dass Sie hier neben mir sitzen«, sagte sie. »Nach allem, was ich in letzter Zeit erlebt habe, bringt mich das jetzt aber auch nicht mehr aus der Fassung.«
»Nun erzählen Sie schon!«
Ach, dachte sie betrübt, wäre Friedrich doch auch so neugierig.
»Es fing auf der Pfaueninsel an. Ich hatte Ihr Buch dabei. ›Wie ein Märchen steigt ein Bild aus meinen Kindertagen vor mir auf: ein Schloß, Palmen und Känguruhs …‹ Ich kann’s
wirklich auswendig. Und dieses Buch habe ich dem Mann geschenkt, den ich liebe. Das ist aber nicht der, den ich heiraten soll. Ach, das ist alles viel komplizierter, aber im Grunde geht es darum. Verstehen Sie jetzt?«
»Es geht immer darum. Sagen wir, meistens. Und meistens geht es nicht gut aus. Deshalb ist bei der Liebe ja immer von Liebesglück die Rede. Nicht weil es glücklich macht, sondern weil es so flüchtig ist.«
»Ich will aber nicht unglücklich sein.«
»Tja.« Er seufzte schwer und blickte geradeaus, wie in die Ferne. »Junge Damen wie Sie haben mehr als andere mit den Konventionen zu kämpfen. Aber das Glück besteht darin, dass man da steht, wo man seiner Natur nach hingehört. Selbst die Tugend- und Moralfrage verblasst daneben.«
Sie wusste, dass sie an Anschars Seite gehörte. Nur, dort war sie nicht. Warum habe ich ihn gehen lassen?, fragte sie das Taschentuch, als sie erneut hineinschnäuzte. Verschämt räusperte sie sich.
»Geht’s wieder?«, fragte er.
»Ja, danke. Hatten Sie nicht eben etwas von einem neuen Roman gesagt? Ich habe so viel von Ihnen gelesen, und ich liebe den Herrn Ribbeck! Sagen Sie, ist das mit den
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