Das gläserne Tor
machen. Es ist noch recht warm draußen.«
»Nein, nein.« Ihr Vater winkte ihn auf einen Stuhl. »Immerhin kennen Sie den Mann, der daran schuld ist, dass meine Tochter aus der Bahn geraten ist. Glauben Sie, ich wollte
mich bei der Entscheidungsfindung allein auf ihre von der Verliebtheit getrübte Wahrnehmung verlassen?«
»Dann erwägst du, mich gehen zu lassen?«, fragte sie.
»Hat sich das so angehört? Sehen Sie?« Mit der Zigarre deutete er auf sie, während er den Gast ansah. »Sie hört, was sie will, und ich fürchte, sie tut, was sie will. Helfen Sie mir, es ihr auszureden.«
Bruder Benedikt hob abwehrend die Hände. »Was soll ich dazu sagen? Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt. Das sagt Salomo.«
Grazia schmiegte sich an die Brust des Vaters. »Ich liebe die Familie, und ich liebe Anschar. Man verlässt das Elternhaus und geht zu dem, den man liebt, so ist es doch?«
»Ja, nur ist der Ort, zu dem du gehen willst, die große Unbekannte in dieser Rechnung.«
»Nicht für mich. Du hast gesagt, es wäre, als hätte ich Tante Charlotte besucht. Damit sie jemand besuchen kann, muss sie ja auch erst dorthin gekommen sein. Niemand hat sie zurückgehalten, als sie ihrem Oberstleutnant nach Deutsch-Ostafrika folgte. Und da ist es doch wirklich nicht ganz ungefährlich.«
»Bruder Benedikt, hören Sie sich das an! Die Göre benutzt meine eigenen Waffen gegen mich!« Er legte den Zigarrenstummel in den Aschenbecher. »Zeit fürs Bett, bevor ich ihr gleich unterliege. Wo ist das verflixte Dienstmädchen? Sie soll unseren Gast hinauf in die Mansarde bringen. Morgen am helllichten Tag lässt sich klarer denken.«
Er stand auf. Grazia reckte sich und küsste ihn auf die Wange. Sie hatte das Gefühl, den Sieg errungen zu haben. Die Nacht indes würde schrecklich werden. Vielleicht die längste ihres Lebens.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Eine gewissenhafte Kirchgängerin war Grazia nie gewesen, aber diesmal betete sie im Gottesdienst so inbrünstig wie nie. Auch Bruder Benedikt hatte die Familie begleitet und mit seinem weißen Habit die Blicke auf sich gezogen. Daheim saßen alle beim Frühstückstisch beisammen. Die Stimmung war getrübt. Grazia aß schweigend ihre Butterstulle, und auch vom Vater kamen nur Kommandos, wenn er Kaffee nachgeschenkt bekommen wollte. Lauter als sonst prasselte der Regen gegen die Fensterscheiben. Das Thema ihres Fortgangs lastete auf allen, und es war, als habe sich die Entscheidung über Nacht herabgesenkt, ohne dass sie jetzt noch in Frage gestellt werden konnte.
Als Adele das Geschirr abräumte, holte Grazia aus der Kommode ein riesiges ledergebundenes Familienalbum. Auf jeder Seite war eine Photographie eingesteckt.
»Was willst du denn jetzt damit?«, fragte die Mutter. Seit dem Morgen hatte sie kaum ein Wort gesprochen.
Grazia versuchte ein Lächeln, das hilflos geriet. »Ich möchte ein Bild mitnehmen, wenn ich darf.«
»Mitnehmen? Wohin?«
»Nach Argad. Für Anschar. Er hatte schon eines, aber das ist ihm verloren gegangen.«
Die Mutter sperrte den Mund auf. »Nach Argad«, wiederholte sie nach einer Weile.
Der Anblick der Familienbilder war nicht dazu angetan, Grazias Laune zu bessern. Wer mochte schon wissen, für wie lange der Abschied diesmal galt? Nicht für ewig, das wollte sie nicht. Sie wollte Anschar finden und dann, wenn auch für kurze Zeit, hierher zurückkehren, um ihren Eltern den Mann ihres Herzens zu zeigen. Ihr Platz war bei ihm, und seiner war in Argad. So war es. »Die Argaden sagen, die tiefste Sehnsucht eines Mannes wäre es, sich in Abenteuern zu bewähren.
Und die tiefste Sehnsucht der Frau, ihn dabei zu begleiten. Ich glaube, das stimmt. Ich will Anschar begleiten.«
»Abenteuer! Was sind das nur für Dummheiten?«
»Luise«, sagte der Vater mit Bedacht, doch die Mutter stand auf und marschierte mit wehendem Rock aus dem Salon. Er folgte ihr. Grazia kaute an der Unterlippe und steckte die Nase in das Album. Aus der Küche drangen erregte Stimmen. Justus rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Auch er war schweigsam.
»Das ist aber auch eine Stimmung heute«, murmelte Adele, während sie das Tablett belud. »Passt wenigstens zum Wetter.«
Am liebsten hätte Grazia sich die Ohren zugehalten, um nichts von dem zu hören, was in der Küche vor sich ging. Doch die Neugier war größer, wenngleich nur einzelne Wortfetzen zu hören waren. Leise klappte sie die Pappseiten des Albums
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