Das gläserne Tor
Sturzbäche!«
»Männer flennen nicht. Und Krieger erst recht nicht.«
»Ist aber so. Jedenfalls bei den Argaden. Ich fand’s auch erst sehr merkwürdig.«
Er zog die Nase hoch, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen und straffte sich. »Ich würde ja gern mit, aber da brauch ich wohl gar nicht erst fragen, wa?«
»Nee. Ach, Justus, ich würde dich mitnehmen. Aber wahrscheinlich lässt Papa dich nicht einmal auf die Insel, damit du nicht siehst, wo das Tor ist, und mir irgendwann hinterherspringst. Außerdem musst du morgen zur Schule.«
Er gab ein entsetztes Schnaufen von sich. Sie deutete auf ihren Schreibtisch.
»Passt du auf meine Zeichnungen auf?«
»Is’ jebongt.«
»Und darf ich deine Uhr wieder mitnehmen?«
»Na, meinetwegen.«
»Danke.« Sie legte den Arm um seine Schulter. Es war schön und traurig zugleich, wie er sich an sie schmiegte und sich wiegen ließ. Doch als es wieder am Türblatt klopfte und Adele Wachspapier brachte, sprang er wie von der Tarantel gestochen auf. Grazia breitete die Bogen auf dem Bett aus und wickelte ihre Sachen darin ein.
Kopfschüttelnd sah das Dienstmädchen dabei zu. »Dass das Fräulein einfach so gehen soll … Ich kann’s noch nicht glauben.« Mit einem Seufzer wandte sie sich um und verließ das Zimmer.
»So viel Unterwäsche.« Mit zwei Fingern hielt Justus ein Strumpfband hoch. »Mir würde ja eine Garnitur reichen.«
»Ja, dir, du bist ja auch keine Dame.« Sie schlug es ihm aus der Hand. »In Argadye kann ich nichts nachkaufen, schon gar keine Korsetts.«
»Dann lass sie doch weg.«
Pikiert hob sie eine Braue. »Du Bengel kommst ja auf Ideen!«
»Und was willst du mit dem Lexikon? Und dann gleich ein dreibändiges. Das ist doch viel zu trocken.«
»Ist es nicht.« Die Hände in den Seiten, betrachtete sie den halb gefüllten Koffer. Unmöglich konnte sie alle diese Bücher mitnehmen. Aber es wäre schade, darauf zu verzichten und Anschar und der stets neugierigen Fidya die Bilder darin vorzuenthalten. Grazia trug die Bände in den Salon zurück und suchte stattdessen einige Zeitschriften aus. Diese Idee war sogar noch besser, denn darin fanden sich viel mehr Bilder und Zeichnungen. Zufrieden wickelte sie sie in Wachspapier und legte sie in den Koffer. Ein paar Bücher brauchte sie trotzdem – natürlich Theodor Fontanes neuen Roman, den Havelband und ihren Homer. Auf ihr Gebetbuch wollte sie auch nicht verzichten. Und damit war der kleine Koffer bereits fast voll.
»Im Keller steht doch der große Kabinenkoffer«, schlug Justus vor. »Da kannste den Friedrich auch mit reinstecken.«
»O ja, natürlich.« Sie rollte die Augen. »Nein, größer darf der Koffer nicht sein, sonst könnte es passieren, dass ich ihn unterwegs nicht festhalten kann. Und dann landet er woanders als ich – etliche Kilometer entfernt. Von unterschiedlichen Zeiten nicht zu reden.«
»Potzblitz!«
»Da sagste wat. Ich glaube, ich bin fertig. Brüderchen, leb wohl.«
Sie küsste ihn auf die Stirn, drückte ihn noch einmal fest an
sich. Dann löste sie sich von ihm und warf einen letzten Blick in den Spiegel. Eine erwachsene Frau blickte ihr entgegen. Statt des Sonntagskleids hatte sie einen dunklen Rock und eine grün-weiß gestreifte Bluse gewählt. Lange würde sie diese Sachen in Argad ohnehin nicht tragen. Sie rief Adele, um sich in die Stiefeletten helfen zu lassen. Ihr Vater verkündete, dass die Droschke schon warte. Es wurde Zeit. Zaghaft klopfte sie an die Schlafzimmertür ihrer Eltern und lauschte auf die Aufforderung ihrer Mutter, einzutreten. Einige bange Sekunden vergingen, dann kam ein leises »Herein.« Die Mutter saß am Fenster zum Innenhof, die Hände im Schoß verschränkt.
»Es ist so weit«, sagte sie mit müder Stimme und erhob sich langsam.
»Ja.« Grazia näherte sich zögernd. Als sie vor ihr stand, wusste sie nicht, was sie tun sollte. Schuldbewusst blickte sie zu Boden.
»Komm wieder.« Die Mutter nahm sie in die Arme. Ohne diese Geste des Verzeihens wäre es so viel schwieriger geworden. Dankbar spürte sie einen Kuss auf der Wange.
Während der Fahrt zur Pfaueninsel ließ sie ihre Heimat nicht aus den Augen und die Hand des Vaters nicht los. Wann würde sie zurückkehren? Würde sie ewig zwischen zwei Welten hin- und hergerissen sein? Aber dann dachte sie an Anschar, und sie legte die Hand auf ihr Herz, weil es so fest schlug. Wenn sie ihn doch nur befreien könnte!
»Du zitterst«, sagte ihr Vater. »Hast du Angst?«
Sie
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