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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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nickte. »Um ihn, ja.«
    Dann waren sie auf der Insel, und auch hier nahm sie alles tief in sich auf. Schon als Kind hatte sie die Spaziergänge auf den verwunschenen Wegen geliebt. All die Wunder des preußischen Arkadiens … Sie heftete den Blick auf den Weg, in der Hoffnung, eine Pfauenfeder zu finden. Bei diesem
Regenwetter war nicht einmal ein Pfau zu hören, geschweige denn zu sehen. Die herbstlich gefärbten Blätter der Bäume rauschten und trieben ihr entgegen. Vor wenigen Tagen, als sie an Friedrichs Seite hier gewesen war, ohne zu ahnen, was auf sie zukam, hatte die Insel noch sehr viel sommerlicher gewirkt. Vielleicht glaubte sie das auch nur, weil es nach ihrem Gefühl so viele Monate zurücklag.
    Friedrich … Er stand vornübergebeugt am Zaun, der das Grab umschloss, und hatte die Arme aufgestützt. Seine Kleidung war durchnässt. Wie lange stand er schon da und starrte in die Grube? Bei ihrem Nähertreten streckte er sich mit unübersehbarer Verwunderung.
    »Grazia … ich – ich wusste nicht, dass du herkommst«, stotterte er. Sein Blick wanderte zwischen ihr, dem Vater und Bruder Benedikt hin und her. »Du willst gehen?«
    »Ja.«
    Er räusperte sich und schüttelte den Männern die Hand. Dann stand er da, kerzengerade und verlegen. Fast wirkten die Regentropfen, die an seinem Gesicht herabperlten, wie Tränen.
    »Bitte sei mir nicht böse«, sagte sie.
    Er hob die Hand, als wolle er eine feuchte Strähne, die ihr vorm Auge hing, hinters Ohr streichen. Aber dann kratzte er sich nur am Kinn. »Ich hoffe darauf, dass das, was dich umtreibt, nur eine vorübergehende Sache ist. Ich bin bereit, dir zu verzeihen, wenn du dich besinnst.«
    »Das ist großzügig von dir.« Sie meinte es ernst, denn sie verstand, wie verletzt er sich fühlen musste. Der Gedanke, sich im Streit von ihm zu trennen, war ihr verhasst gewesen, daher war sie dankbar für diese Geste. Sie reichte ihm die Hand, und er hob sie an die Lippen. »Adieu, Friedrich.«
    Ihr Vater gab Bruder Benedikt den Koffer. Vorsichtig, den Regenschirm hochhaltend, setzte er einen Fuß auf den Steg.

    »Sieht brüchig aus.«
    »Papa, pass auf.«
    »Na, wenn ihr das geschafft habt, werde ich jetzt nicht hier stehen bleiben.« Entschlossen klemmte er Grazias Hand unter den Arm und stapfte mit ihr ans Ende des Stegs. Das vom Regen aufgeweichte Holz knarrte. »Und wo ist nun das Licht?«
    Sie deutete auf das Wasser unmittelbar vor ihm. Das Licht war zu sehen, aber es leuchtete schwach. Er neigte sich vor, und da war es, als antworte es seiner Bewegung. Es wurde stärker, bis die kreisförmige Öffnung des Tors nicht zu übersehen war.
    »Alle Wetter! Das ist ja fantastisch! Als seien Lampen darin versenkt.«
    »Genau das dachte ich anfangs auch.« Es entlockte ihr ein stolzes Lächeln, wie sich die drei Männer über den Rand des Stegs beugten. Auch Friedrich war ihnen gefolgt, und obwohl er das Tor kannte, wirkte er nicht weniger beeindruckt.
    »Wird es wieder schwächer, wenn du darin verschwunden bist?«, fragte ihr Vater.
    »Ich glaube schon. Aber so genau weiß ich das nicht.«
    »Wenn ich nur wüsste, dass du wirklich in dieser anderen Welt herauskommst und nicht etwa am Grund der Havel ertrinkst!«
    »Das passiert nicht.«
    »Ja, das weißt du ! Das weiß jeder von euch, wie ihr hier steht. Ich jedoch nicht.«
    »Warten Sie, ich habe eine Idee.« Friedrich lief über den Steg, verschwand zwischen dem Schilf und kehrte kurz darauf mit der Plane zurück, die auf der Grube gelegen hatte. Aus der Hosentasche zog er ein Taschenmesser und begann sie in Streifen zu schneiden.
    »Was wird denn das?«, fragte der Vater.
    »Ein Seil.« Friedrich knotete einige der Streifen aneinander,
ging zu Grazia und machte Anstalten, ihre Taille zu umfassen. Er hielt inne und reichte ihr sodann ein Ende. »Ich glaube, das machst du lieber selbst.«
    Sie legte es sich um und knotete es zusammen. »Willst du mich etwa wieder herausziehen? Das schaffst du nie, das Tor ist stärker.«
    »Nein, das will ich nicht. Es dient nur dazu, deinen Vater zu beruhigen. Ich weiß nicht, wie tief die Havel hier an dieser Stelle ist. Es können eigentlich nur ein paar Meter sein, wenn überhaupt. Das Seil dürfte zehn Meter lang sein. Wenn du durchs Tor gehst, verschwindet das Seil. Wenn du aber lediglich auf den Grund sinkst, verbleibt es in meiner Hand, und ich kann dich wieder heraufziehen.« Er schüttelte unmerklich den Kopf. »Ich weiß ja, du wirst verschwinden. Es soll nur ein

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