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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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herum. Sie sah sich als kleines Mädchen; es saß auf dem Schoß einer ganz in Weiß gekleideten Spreewaldamme, deren Haube das pausbäckige Gesichtchen beschattete. Justus im Matrosenanzug, der vor einer Schultafel stand. Die Mutter auf einem Stuhl, umringt von der Familie. Die folgende Seite war leer; darin war die Photographie gewesen, die Grazia unwissentlich in ihrem Havelband mit in die argadische Welt genommen hatte.
    Sie nahm das letzte Bild heraus. Adele trug das Tablett in die Küche.
    »Carl, was ist nur in dich gefahren? Du bist bereit, sie zu einem Mann gehen zu lassen, den wir nicht kennen? Den wahrscheinlich nicht einmal sie richtig kennt?«
    »Das tut sie, das glaube ich sehr wohl.«
    »Er ist bestimmt ein Sträfling! Nur Verbrecher lassen sich die Arme bemalen.«
    »Aber sie hat doch erklärt, was es damit auf sich hat.«

    Die Küchentür klappte zu. Dann öffnete sie sich wieder, als Adele herauskam. Grazia sprang auf und rannte an ihr vorbei zu ihrer Mutter.
    »Bitte, du irrst dich.« Verzweifelt ballte sie die Hände. »Kannst du mir nicht einfach vertrauen?«
    »Du verlangst zu viel.«
    »Nein, du verlangst zu viel. Du verlangst, dass ich auf ewig unglücklich bin. Das ist sehr hart von dir, weißt du das?«
    Grazia wartete auf das Donnerwetter, das diesen Worten folgen musste. Ihr Vater schwieg. Ihre Mutter schlang die Arme um sich und bedeckte dann mit einer Hand die Augen. »Was habe ich nur falsch gemacht?«
    »Nichts, Mutter.« Grazia stellte sich an den Spülstein und streckte die Hand aus. »Es tut mir so weh wie dir. Aber du musst mich gehen lassen. Bitte!«
    Sie spürte den kalten Luftzug auf der Haut. Ihre Mutter warf einen verständnislosen Blick auf ihre Hand, bevor sie ihr traurig, aber fest in die Augen sah. »Dann geh, wenn dein Vater es erlaubt. Geh mit Gott, aber geh.«

    »Wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über«, sagte Bruder Benedikt. Er saß im Salon, die Hände vor der schmalen Brust verschränkt, und sah zu, wie Grazia durch die Wohnung fegte und dabei unentwegt von Anschar und der argadischen Welt sprach. Sie war erleichtert. Sie durfte gehen. Es war ein großer Vertrauensbeweis, denn sie bestieg keinen Zug, sondern würde in die Havel springen. Ihre Mutter hatte deutlich gemacht, dass sie über die Einzelheiten der Reise nichts wissen wollte, und sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Der Vater gab sich gelassen. Grazia fragte sich, ob er die ganze Tragweite begriff.
    »Ich möchte ihn wirklich gerne kennen lernen«, sagte er. Sie legte den Havelland-Band vor ihn auf den Tisch.

    »Schreib ihm doch etwas hinein. Er wird sich freuen. Darf ich die Photographie mitnehmen?«
    »Natürlich. Bist du schon am Packen?«
    »Ja.« Sie ließ sich auf seinen Schoß sinken und von ihm umarmen. »Ich brauche irgendetwas, um meine Sachen einigermaßen trocken in die andere Welt zu bekommen.«
    »Da werden wir schon etwas finden.«
    »Und dann ist da noch etwas sehr Wichtiges.«
    »Ja?«
    »Bitte sorge dafür, dass Siraia wieder beerdigt wird.«
    Er nickte nur. Grazia drückte ihm einen Kuss auf die Wange, sprang wieder auf und lief in ihr Zimmer. Mittlerweile hatte sie einiges zusammengetragen. Ein schwarzer Lederkoffer lag geöffnet auf dem Bett. Daneben Bücher, Unterwäsche, dies und das. Unruhe hatte sie erfasst, und sie wünschte sich sehnlichst nach Argad, um zu erfahren, was mit Anschar war. Daran, dass das Tor sie sonstwohin bringen mochte, wollte sie nicht denken. Bruder Benedikt hatte diese Unwägbarkeit bisher verschwiegen, und sie hoffte, dass er es weiterhin tun würde. Andernfalls würden ihre Eltern sie niemals gehen lassen.
    Die Tür flog auf. Justus platzte herein. »Entschuldige«, murmelte er, als sie ihn tadelnd ansah, und ließ ein zaghaftes Klopfen gegen den Türrahmen folgen.
    »Ach, komm her.« Sie setzte sich auf den Bettrand und breitete die Arme aus. Normalerweise wäre er einer solchen Aufforderung nicht gefolgt, aber jetzt flog er ihr entgegen.
    »Tut mir leid, kleiner Bruder.« Ihr Ohr lag auf seiner Brust. Sein Herz schlug laut.
    »Mir auch.«
    Sie ließ ihn los, und er hockte sich an ihre Seite.
    »Wann kommst du wieder?«
    »Weeß ick nisch.« Aus dem Ärmel zog sie ihr Tüchlein und
wischte ihm über die feuchten Augen. Er schüttelte sich, wie um zu verbergen, dass es ihm so naheging. Trotz allem musste sie lachen. »Wenn du Anschar doch nur kennen würdest! Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Tränen er vergießen kann.

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