Das gläserne Tor
Beweis sein.«
»Danke, Friedrich. Das ist sehr umsichtig von dir.«
Ihr Vater war bleich geworden, als erfasse er erst jetzt die ganze Tragweite. Es tat ihr so leid. »Ach, Papa«, sie drückte sich an ihn. »Ich werde immer Heimweh haben, immer, egal wie lange es dauert.«
Er strich ihr übers Haar. »Ich werde dich vermissen.«
»Aber vielleicht nicht lange. Ich will ja wiederkommen, so bald wie möglich. Mit Anschar, ihr sollt ihn kennen lernen. Vielleicht schließt sich das Tor nicht, so lange ich in Argad bin. Dann käme ich jetzt und hier wieder heraus. Es könnte sein, dass du nach Hause kommst, dir eine Zigarre anzündest, und ehe du sie aufgeraucht hast, klingelt es an der Tür, und das bin ich.«
Er seufzte in ihr Ohr. »Mach mir nicht solche nervenzerreißenden Hoffnungen. Aber ich verstehe schon – in der argadischen Welt warst du ein Jahr, während hier nur anderthalb Tage vergangen sind. Nun, es wäre tröstlich, wenn es dieses Vielleicht nicht gäbe.«
Tief sog sie den Duft seines Rasierwassers in sich auf. Seine Stimme, die Falten seines Rocks unter ihren Fingern, alles wollte sie bewahren. Er küsste ihr die Augen, dann ließ er sie los. Es war so weit. Sie wandte sich dem Wasser zu.
»Halten Sie den Koffer für mich, Bruder Benedikt?«
»Natürlich, ich habe ihn.«
Sie umklammerte seine Hand. Gemeinsam setzten sie sich an den Rand des Stegs und ließen die Beine baumeln. Auf der Wange spürte sie die streichelnden Finger des Vaters.
»Leb wohl, Kind.«
»Papa«, presste sie hervor, obwohl sie viel lieber geschrien hätte. Er sollte nicht merken, wie weh es ihr tat, aber wahrscheinlich merkte er es doch.
»Auf drei?«, fragte Bruder Benedikt.
»Geben Sie mir lieber einen Schubs.«
»Aber gern. Verzeihung.« Er legte einen Arm um ihre Mitte. »Gebe der Herr, dass es gut ausgeht. Und jetzt tief Luft holen.«
Sie presste die Augen fest zu und rutschte von der Kante. Kaltes Wasser schlug über ihr zusammen.
3
So schwach hatte sich Anschar bisher nur einmal gefühlt: als er in der Wüste fast verdurstet wäre. Nun schien es wieder so weit zu sein. Seine Zunge war ein unförmiger Klumpen, die Kehle so trocken, dass er nicht mehr schlucken konnte. Den ganzen Tag hatte er nichts zu trinken bekommen. Er
hockte auf dem gestampften Lehmboden eines Bauernhauses, gefesselt an einen Holzpfeiler. Seine Bewacher hatten vor einigen Stunden die Bewohner verjagt und das Haus an sich gerissen, um hier zu warten. Worauf, wusste er nicht. Allmählich schmerzten seine Schultern, denn seine Hände waren über dem Kopf gekreuzt. Vergeblich suchte er eine bequemere Haltung einzunehmen, um wenigstens ein bisschen Schlaf zu finden. Doch er konnte nur beständig an die letzten Tage denken. Grazia, das Tor, der Ritt hierher. Er hätte nicht auf sie hören, sondern mit ihr gehen sollen. Aber was half es, jetzt noch zu hadern? Er sah sie vor sich. Ihre grünen Augen, die blasse Haut mit den Flecken, das leuchtend rote Haar. Feuerköpfchen … Als er daran dachte, dass sie ihm mühelos und von seinen Bewachern unbemerkt zu trinken geben könnte, wäre sie nur hier, musste er lachen.
Die drei Herscheden, die auf einem Holzstapel gesessen hatten, sprangen misstrauisch auf und griffen nach ihren Waffen. Sie ließen ihn nicht aus den Augen. Dass sie seine Hände über dem Kopf gefesselt hatten, sodass sich ein Befreiungsversuch nicht verbergen ließ, verriet, für wie gefährlich sie ihn hielten. Dabei konnte sich kein Mensch von einer Felsengrasfessel befreien, auch er nicht.
»Wann bekomme ich etwas zu trinken, ihr Hunde?«, schrie er sie an. Sie steckten die Köpfe zusammen und berieten sich, ob es vertretbar sei, ihm endlich etwas zu geben. Einer holte schließlich einen Lederbalg, beugte sich über ihn und hielt ihm die Öffnung an die Lippen. Viel bekam er nicht, aber es genügte, die Benommenheit abzuschütteln.
»Danke!«, polterte er. »Wenn du jetzt noch so freundlich wärst, mir zu sagen, warum wir nicht in Heria sind?«
»Darauf wird dir dein Herr antworten«, erwiderte der Mann. Sie ließen sich wieder auf dem Holzstapel nieder. »Er wird bald hier sein.«
Abgesehen von einem bohrenden Hungergefühl, auf das er nicht weiter achtete, blieb nur das beständige Kreisen um die Frage, was Mallayur mit ihm vorhatte. Bei seiner Festnahme hatte Anschar natürlich angenommen, er werde nach Heria zurückgebracht, um dort im Palastkeller zu verrotten, zu Tode gepeitscht zu werden oder in den Becken der
Weitere Kostenlose Bücher