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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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ging.
    Sie kramte in dem Korb. Tatsächlich, bis auf ihr Sommerjäckchen waren all ihre Sachen da, trocken, aber zerknittert, als seien sie nass gewesen. Ihren Sturz in die Havel hatte sie also keineswegs geträumt. Justus’ Taschenuhr zeigte sieben Uhr an. War es schon Abend? Grazia hielt die Uhr ans Ohr, die gottlob keinen Schaden genommen hatte, lauschte dem vertrauten Ticken und steckte sie zurück in den Korb. Plötzlich ertrug sie es nicht länger, hier herumzusitzen. Sie musste nachsehen, wo sie war. Fest schlang sie die Decke um sich und rutschte zur Zeltwand. Es war ein hölzernes Gestänge, an das etliche Stoffbahnen festgebunden waren. Sie löste ein Stück und zog es beiseite.
    Heißer Sand wehte ihr ins Gesicht.
    Grazia ließ erschrocken den Stoff los. Das da draußen war nicht die Pfaueninsel. Das war nicht einmal in der Nähe Berlins. Das da war … irgendwo .
    Verunsichert wagte sie einen weiteren Blick. Zwischen zwei Zelten erblickte sie eine ockerfarbene, sandige Fläche, durchbrochen von Feldern gelblich-grünen Grases, das sich im Wind wiegte. Keine Bäume, nur vereinzelte Sträucher, die aussahen, als müssten sie jeden Moment in Flammen aufgehen. Bis zum flirrenden Horizont erstreckte sich das trostlose Bild.
    Sie war in einer Wüste.
    Grazia kniff sich in den Arm. »Bleib bloß ruhig«, sprach sie sich Mut zu. »Das wird schon. Ich muss nur jemanden finden, der mir das alles erklärt.«

    Sie drehte sich auf dem Gesäß um. Jetzt sah sie das Zelt, das ganz sicher keinem Zirkus gehörte, mit neuen Augen. Es war übersät mit Stoffen, Kissen, Teppichen und Fellen. Rot herrschte vor, die Webmuster wirkten fremdartig, vielleicht orientalisch. An den Zeltwänden standen geflochtene Körbe in vielerlei Formen und Größen. Würde es weniger streng riechen, wäre es ein durchaus gemütlicher Raum. Der hintere Bereich war durch herabhängende Decken abgeteilt. Sie stand auf, nahm ihr Kleid an sich und steckte den Kopf hindurch. Hier konnte sie es wagen, sich anzukleiden. Während sie ihr Korsett nachschnürte, entdeckte sie inmitten der Kissen ein kleines zotteliges Tier. Es glotzte sie an, wackelte mit den Ohren und erhob sich auf vier Stelzen.
    Was war denn das? Eine Ziege? Es hatte ein grau meliertes Fell, das in Locken von einem wohlgenährten Bauch hing. Die Ohren reckten sich nach vorn, während es Grazia musterte. Vorsichtig streckte sie eine Hand aus, berührte eine zarte Nase und strich durch das Fell, das sich erstaunlich weich anfühlte. Das Verwunderlichste aber war das gedrehte Horn, das ihm aus der Stirn wuchs.
    »Eine Einhornziege«, sagte Grazia verblüfft. Die Ziege, oder was immer es war, reckte den Hals. Da erklangen Frauenstimmen vom Zelteingang her. Sie wollte nach ihrem Kleid greifen, aber es anzuziehen, kostete Zeit, also raffte sie eilends ein herumliegendes Gewand auf. Es war nur ein Viereck, durch das man den Kopf stecken konnte. Wenigstens war es groß genug, alles an ihr zu verbergen.
    Eilig kehrte sie in den Vorraum zurück. Die Ziege schlüpfte an ihr vorbei und drängte sich an Tuhrod, die Grazia misstrauisch musterte. Eine zweite Frau war bei ihr, starrte Grazia an, stieß unverständliches Zeug hervor und stapfte auf sie zu. Grazia zuckte zurück. Zwei runzlige Hände packten ihre Wangen und kratzten an ihr herum.

    »Aua!«
    Die Alte riss die Augen auf und machte einen Satz nach hinten. Grazia rieb sich über die Wange und schwankte zwischen Ärger und Schreck. Es musste wohl an ihren Sommersprossen liegen, vielleicht kannte man hier so etwas nicht. Die Gesichter dieser Frauen waren terrakottafarben und ledrig.
    »Sie verstehen mich auch nicht, oder?«, fragte sie die Alte. Die glotzte nur. Nein, offensichtlich nicht. »Ist denn hier irgendjemand, mit dem ich mich verständigen kann?«
    Grazia ging zum Eingang. Tuhrod schien sich nicht daran zu stören, dass sie eines der Wüstengewänder an sich genommen hatte. Sie hätte es vorgezogen, in ihrem eigenen Kleid hinauszutreten. Aber da sie nicht wusste, wie sie den beiden Frauen begreiflich machen sollte, dass sie zum Ankleiden allein sein musste, verzichtete sie darauf und hob die Plane an. Ein weitläufiges Zeltdorf tat sich vor ihr auf. Nun sah sie, dass die Gegend noch anderes bereithielt als nur Sand und Gras. Ein Teil des Horizonts war von einer niedrigen Bergkette begrenzt. Schroffe Felsen, so hoch wie fünfgeschossige Mietshäuser, ragten am Rande des Dorfes auf. In deren Schatten weidete eine ganze Herde dieser

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