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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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sah sich selbst, in das Tor schreitend oder mit vorgestreckten Händen, von denen gepunktete Linien hinabführten. Manchmal schien etwas weggewischt und übermalt worden zu sein. Sie stellte sich vor, wie er hier allabendlich gelegen und seine Sehnsucht wegzumalen versucht hatte. Der Gedanke tat ihr weh.
    »Ich hoffe, du findest den Anblick nicht völlig unerträglich.«
    Sie fuhr herum. Anschar schob den Koffer hinein, dazu ein paar weitere Decken und sein Buch.

    »Nein, er hat mich nur erstaunt.« Sie zog den Koffer heran und öffnete ihn. Auf halber Höhe war ein Brett angebracht, das als Wandbord diente, darauf legte sie ihre Bücher, ihr Handtäschchen, den Schmuckbeutel und all die anderen kleinen Dinge, die sie mitgebracht hatte. Nur ihre Kleider beließ sie im Koffer, der ihr jetzt als Schrank dienen musste. Sie schob ihn in eine Ecke und wandte sich Anschar zu, der immer noch am Eingang kauerte. »Wo … auf welcher Seite darf ich schlafen?«
    »Wo du willst.«
    Grazia legte sich hin und deckte sich zu. Ohne dass sie ihn darum bitten musste, schnürte er die Stiefeletten auf und zog sie ihr von den Füßen. Dann faltete er eine Decke zusammen und hob ihren Kopf an, um sie unterzulegen. Sie fühlte sich angenehm entspannt.
    »Was ist das?« Sie streckte eine Hand nach seiner Schulter aus und schob den Armausschnitt seines Hemdes ein Stück zurück. Drei wulstige Narben verliefen von der Schulter zur Brust. »Das hattest du vorher noch nicht! Was ist geschehen?«
    »Das war der Schamindar.«
    »Der … o Anschar, das ist ja unglaublich.« Die Große Bestie, das heilige Tier Argads? Das war in der Tat zu unglaublich, um es sich auszumalen. Es war, als hätte er beiläufig erzählt, auf dem Pegasus geritten zu sein. »Es sieht schrecklich aus.«
    »Nun ja, da man mir die Krallen des Schamindar ausgebrannt hatte, hielt er es wohl für nötig, mich nachhaltiger zu zeichnen. Aber wir haben später noch viel Zeit für solche Geschichten.« Er ergriff ihre Hand und beugte sich herab. Sein Kuss war erst zögerlich, doch plötzlich ging ein Zittern durch seinen Körper. Er ließ sich halb auf sie fallen, halb von ihr ziehen, und küsste sie so heftig, dass es ihren Puls beschleunigte. Als er sich wieder hochstemmte, wirkten seine
Züge sehr viel weniger hart. Das gequälte Lächeln, das seinen Mund umspielte, ließ sie in den Schlaf gleiten.

    Die Bretter unter ihr erzitterten leicht. Mit einem Ruck fuhr Grazia hoch. Für einen Augenblick wusste sie nicht, wo sie sich befand. Dann wollte sie vor Erleichterung aufseufzen. Sie war sicher. Sie war bei Anschar. Er warf die Decke, die den Eingang verhängte, zurück und kroch in die Hütte. Seine Haare waren feucht, sein Körper in eines der unförmigen Wüstengewänder gehüllt, die nur aus zwei aneinandergeknüpften Vierecken bestanden. Offenbar hatte er sich im Bach gewaschen.
    »Gut geschlafen, Feuerköpfchen?«
    Sie nickte. Die Frage, wie spät es war, lag ihr auf der Zunge. »Ist schon Abend?«
    »Es dämmert gerade. Wenn du noch einmal hinunter willst, solltest du es jetzt tun.«
    »Nein. Eigentlich bin ich immer noch müde. Hast du die schon gesehen?« Sie nahm die Uhr vom Bord. »Bruder Benedikt hat sie mir gebracht.«
    »Er hat sie also gefunden. Das hatte ich gehofft.«
    »Ja.« Im schwindenden Licht erkannte sie, dass die Uhr halb eins zeigte. Was sollte sie jetzt einstellen? Ob es ein argadisches Wort für die Tagundnachtgleiche gab? »Wann war der Tag, als der Tag so lang war wie die Nacht?«
    »Lass mich überlegen. Vor drei Wochen. Nein, vier. Dreieinhalb.«
    Sie stellte die Zeiger auf halb acht. Das war gewiss nicht korrekt, aber zur Orientierung genügte es. Dann wollte sie ihm die Uhr geben, doch er schob ihre Hand von sich.
    »Das war ein Abschiedsgeschenk. Wir sind aber jetzt zusammen. Außerdem habe ich das Buch wieder.«
    »Das war aber auch ein Abschiedsgeschenk.«

    »Nicht ganz.« Er gab ihr ein Bündel. »Das soll ich dir von Ralaod geben, der Frau, die gestern solche Angst vor dir hatte.«
    Sie nahm ein wollenes Gewand in Empfang, das auffällig fein und dicht gewebt war. Es war dunkelgrün, an den Kanten mit roten Stickereien und Quasten versehen und besaß Löcher, um einen Gürtel hindurchzustecken. Anschar legte ihr einen roten Schal dazu. »Das kann ich unmöglich annehmen«, sagte sie.
    »Du musst. Deine Sachen sind nicht robust genug für dieses Waldleben. Der Winter fängt bald an, das heißt, nachts wird es kalt, und es gibt ab und zu

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