Das gläserne Tor
für den er sich mit einem leidlich freundlichen Nicken bedankte. Oream und der Mann namens Parrad hatten sich zur Kochstelle begeben und nahmen gefüllte Brotstücke in Empfang, die sie im Stehen in sich hineinstopften. Das Mädchen begab sich zu einem Gatter, in dem sich ein Dutzend graubraune Einhornziegen mit abgesägten Hornstümpfen drängten, und machte sich daran, sie zu melken.
»Hast du Hunger?«, fragte Anschar.
Grazia verneinte. Gegen einen Bissen hätte sie nichts einzuwenden gehabt, nur aß sie ungern, wenn ihr ein ganzes Dorf auf die Finger starrte. Ihr fiel auf, dass niemand hier einen Ohrhaken trug. Bis auf Anschar.
»Willst du hierbleiben, edle Frau?«, fragte Jernamach. »Versteh mich nicht falsch, du darfst bleiben. Aber ist es das, was du willst?« Er machte eine umfassende Geste, mit der er wohl auf die Armseligkeit des Ortes hinweisen wollte.
»Ich habe es eine Zeit lang in einem Wüstendorf ausgehalten, daher schreckt mich das nicht.« Aber wie lange würde sie es aushalten? Und was kam danach? Noch verklärte die Freude, Anschar wiederzuhaben, die raue Wirklichkeit. »Lass uns ein andermal darüber reden. Die Nacht war so kurz, und ich bin müde. Kann ich mich irgendwo ausruhen?«
»Gewiss. Du bekommst alles, was du brauchst, sofern wir es haben.« Er stand auf und wies eine Frau an, die besten Decken zu holen, die sie besaßen. Anschar nahm sie an der Hand und führte sie ein kurzes Stück tiefer in den Wald, bis hin zu einer knotigen, vielfach verästelten Zeder. Ein Bach floss hier entlang und sprang über ihre Wurzeln. Zweifellos ein romantischer Anblick, aber wo konnte sie hier schlafen?
»Sieh hinauf.« Er deutete in die Baumkrone. »Das ist, nun ja, mein Zuhause.«
»Ein Baumhaus?« Unangenehm pochte ihr das Herz, während sie den Kopf in den Nacken legte. In fünf oder sechs Metern Höhe waren Bretter zu erkennen. Ein dickes, vielfach verknotetes Grasseil führte hinauf. »Du meinst, ich soll da hoch?«
»Es sieht schlimmer aus, als es ist. Ich bleibe hinter dir.«
»Na schön.« Am besten war es wohl, den Aufstieg anzugehen, ohne vorher darüber nachzudenken. Sie holte tief Luft, packte das Seil und den untersten Ast und stellte den Fuß auf einen Astknoten. Das hier war auch nicht schlimmer als die schwebende Stadt, versuchte sie sich einzureden, und dafür wesentlich kürzer. Anschars Gegenwart beruhigte sie ein wenig. Wenn sie fiel, würde er sie halten. Ihr Rock war jedoch hinderlich, und als sie sicheren Halt auf einem der unteren, quer stehenden Äste hatte, bückte sie sich und zog den Saum hoch, um ihn in den Bund zu klemmen.
Wenn das meine Eltern wüssten, dachte sie. Schrecklich! Wie würde sich ihre Familie wohl ausmalen, was sie in diesem Moment tat? Wie es ihr ging? Auf den Gedanken, dass sie in Bäumen herumkletterte, kam sie sicher nicht. Aber es half nichts; wenn dies dort oben fürs Erste ihre Wohnstatt sein würde, musste sie noch oft hinauf und hinunter, wenngleich der Abstieg etwas war, an das sie jetzt keinesfalls denken durfte. Als sie die Bretter erreichte und mit Händen und Knien
in die Hütte kroch, fiel sie vor Erleichterung aufseufzend in sich zusammen.
»Gut gemacht«, sagte Anschar. »Ich hatte es mir schlimmer vorgestellt. Jetzt hole ich deine Sachen.«
»Schlimmer?« Sie drehte sich auf den Knien um und sah ihm nach. Ich bin keine verzärtelte Dame mehr, wollte sie ihm sagen, aber da war er fast schon wieder unten. Er sprang vom untersten Ast und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Von hier oben wirkte der Wald noch undurchdringlicher – eine grüne Wand, in der es raschelte, knackte, summte und zwitscherte. Welch ein Unterschied zu der Stille der Wüste. Sie pflückte Zedernnadeln aus ihrem Haar und zuckte zusammen, als es über ihr pochte. Sicherlich ein Vogel, der über das Dach hüpfte. Die Hütte war düster, wirkte aber sauber. Der Boden war dick mit Fellen gepolstert. Eine zerknüllte Decke fand sich, die schüttelte sie aus und legte sie sich um, dann kroch sie in die hinterste Ecke. Sehr viel mehr als sich auszustrecken konnte man hier nicht. Auf eigenartige Weise fühlte sie sich heimisch. Es musste an den Kreidezeichnungen liegen, mit denen Anschar die Wände übersät hatte. Genauso hatte er es in der Wüstenhöhle gemacht, nur dass sich zu seinem Lieblingsmotiv, dem Schamindar, ein anderes dazugesellt hatte: eine Frau in einem Kleid mit Puffärmeln und an den Füßen weit ausgestelltem Rock, auf archaische Weise stilisiert. Sie
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