Das gläserne Tor
miteinander verband. Die Götter prophezeiten demjenigen, der das Gewirr lösen könne, einen großen Sieg. Es schaffte aber niemand, weil alles so verworren war. Irgendjemandem gelang es aber doch. Es gibt immer jemanden. Ein berühmter König und Eroberer schlug ihn mit seinem Schwert entzwei.«
»Ah. Und er bekam den Sieg?«
»Ja. Er galt als der größte Feldherr seiner Zeit. Aber er ist viel zu jung gestorben.«
»Natürlich. Die Helden deiner Sagen sterben immer jung. Nicht gerade ermutigend.« Gedankenverloren betastete er ihre Hände und strich mit den Fingerkuppen über ihre abgekauten Nägel und die rissige Nagelhaut. »Warum tust du das?«
Sie wollte ihm die Hände entziehen, aber er hielt sie fest. »Früher habe ich das nicht so schlimm getrieben«, murmelte sie. »Da hatte ich weniger Sorgen.«
Er spreizte ihren Zeigefinger ab und küsste die Kuppe. Plötzlich verschwand der Finger in seinem Mund. Eine warme Zunge schmiegte sich daran. Grazia war, als werde sie von heißen Nadeln durchbohrt. Sie keuchte auf. Konnte das wahr sein? Konnte es wirklich sein, dass Anschar allein dadurch sämtliche Gedanken fortjagte und sie nur noch den Wunsch verspürte, von ihm … berührt zu werden? Sie drückte den Rücken durch. Mit einer Hand hielt er ihren Finger fest, während die andere über ihren Körper glitt und auf ihrer Brust verharrte. Ihre Kleidung war ihr zu viel, das Korsett wie ein Panzer.
Er fing an, die Bluse aufzuhaken. Grazia schloss die Augen. Seine Hand glitt unter die Stofflagen, schob sich unter den Rand des Korsetts und suchte eine Brustwarze. Als die Fingerspitzen sich darum schlossen, war es wieder, als treibe sich
etwas Glühendes in ihren Körper. Ihr Finger kam frei. Kalt strich die Luft darüber. Dann spürte sie Anschars Mund auf den Lippen. In sie züngelte etwas hinein. Zitternd hielt sie still. Es fühlte sich gut an, berauschend. War daran irgendetwas falsch? Sie gehörte ihm, nicht mehr Friedrich. Sie hatte alles Recht dazu. Aber hatte sie auch den Mut?
Sie machte sich stocksteif. Anschar spürte es wohl, denn er entließ sie aus der Umarmung.
»War es zu viel?«
»Ich weiß nicht.« Die Worte kamen kehlig. Besänftigend küsste er ihre Stirn. Als er sich bäuchlings auf die Felle sinken ließ und den Kopf auf den Arm bettete, wirkte er dennoch zufrieden. Wir haben Zeit, schien er ihr sagen zu wollen. Grazia streckte sich an seiner Seite aus, denn sie war immer noch müde. Sie berührte seine Hand. Aus seinem Gesicht war die Härte gewichen. Es war ein Genuss, ihn zu betrachten, wie er dalag, ganz und gar wirklich. Und ein merkwürdiges Gefühl, neben ihm zu liegen, als sei sie seine Frau. Als zum ersten Mal in ihrem Leben eine Heirat zur Sprache gekommen war, hatte sie sich ausgemalt, wie es sein würde, mit einem Mann im selben Bett zu liegen. Eben so, wie die Eltern schliefen, in dicken Federbetten, auf knarrenden Matratzen, auf dem Bauch ein Buch und in der kalten Jahreszeit eine Bettpfanne an den Füßen. Ziemlich unromantisch, aber gemütlich. Das, was sie nun bekommen hatte, war so weit davon entfernt, wie es nur möglich war. Kein Bett, stattdessen Felle in einem schäbigen Bretterverschlag, in dem man nicht einmal stehen konnte. Wildromantisch.
Er hockte am Eingang. Die Decke war beiseite geschoben. Auf den Knien hatte er das Buch; es war aufgeschlagen. Sie erkannte die Photographie, in deren Betrachtung er versunken war. Genüsslich rekelte sie sich in den Fellen. Anschar sah auf.
»Wann kommt der Moment, da sich die Menschen auf diesen Bildern bewegen?«
Bewegte Bilder gab es wohl, aber wie kam er darauf? Sie musste sich ins Gedächtnis rufen, dass jemand, der mit derlei Dingen nicht vertraut war, auf abwegige Gedanken kommen konnte. Und Anschar hatte das Talent für äußerst abwegige Gedanken.
Grazia setzte sich auf und rutschte an ihn heran, bis sie den Kopf auf seine Schulter legen konnte. Das Licht des anbrechenden Morgens spiegelte sich auf der Photopappe. »Was meinst du damit?«
»Zuvor hat dein Vater auf dem Stuhl gesessen, und jetzt ist es deine Mutter.«
»Anschar! Ich dachte, du hättest verstanden, dass das andere Bild verbrannt ist?«
»Ja, ja, das habe ich ja auch. Aber dies hier ist das Gleiche – eines von vielen. Nur hat es sich ganz offensichtlich verändert.«
»Nein, mit den Bildern ist es nicht wie mit den Büchern. Diese gibt es nur einmal, meistens jedenfalls. Es ist das Abbild eines Augenblicks, es verändert sich nicht.«
Er
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