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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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nickte langsam. »Ich versuche mir vorzustellen, dass der Mann, der dein Vater ist, die Worte spricht, die er geschrieben hat.«
    »Vielleicht hörst du ihn ja eines Tages. Er meinte, er würde dich gern kennen lernen.«
    Er steckte die Photographie zwischen die Seiten, klappte das Buch zu und tat einen lauten Atemzug. »Ich habe meinen Vater nie zu Gesicht bekommen. Er war wahrscheinlich auch so ein Hund wie Egnasch.«
    Es war das erste Mal, dass er von dem Sklavenaufseher sprach, der seine Mutter mit Gewalt genommen hatte. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte.

    »Ich würde deinen Vater gern sehen«, fuhr er fort. »Aber dazu kann es nie kommen. Was würde er denn sagen, wüsste er, wo du jetzt bist? Das hier ist für mich kein Leben, wie könnte es eines für dich sein? Ich bin froh, dass du wieder zurück bist, aber leiden sehen will ich dich auch nicht. Vielleicht solltest du gehen, solange das Tor noch offen ist.«
    Wie lange wälzte er schon diese betrüblichen Gedanken, während sie geschlafen hatte? »O nein. Diesen Fehler habe ich hinter mir. Einmal genügt.« Sie berührte sein Kinn. Er wandte ihr den Kopf zu und leckte sanft ihre Lippen. Es war richtig gewesen, durchs Tor zu gehen, das wusste sie auch ohne diesen Kuss. Sie bettete die Wange auf seiner Schulter und sah zu, wie der Morgen anbrach. Aus den anderen Baumhütten hörte sie die Bewohner klettern und ihre müden Stimmen erheben. Kinder lachten. Frauen fingen an zu schwatzen, während sie die Töpfe klirren ließen.
    »Anschar«, raunte sie ihm zu, als könne man sie mehr als drei Meter weit hören. »Wo kann ich hier … du weißt schon?«
    »Was weiß ich denn?«
    »Ich muss mal.«
    »Was?«
    Strullern, dachte sie. Auf die Toilette gehen. Plötzlich wollte ihr das richtige Wort nicht einfallen. »Wasser lassen«, sagte sie schließlich. »Und waschen muss ich mich auch.«
    Er grinste. »Du hast ja dein eigenes Wasser, also ist das einfach. Komm, gehen wir hinunter. Es ist jetzt hell genug.«
    Er streifte sich das Gewand ab und schlang einen Wickelrock um die Hüften. Sie zog die Grassandalen an, gab ihm das Wüstengewand, damit er es für sie hinunter trug, und machte sich mit seiner Hilfe an den Abstieg, der kaum weniger schlimm als der Aufstieg war. Aber sie war zuversichtlich, sich bald daran zu gewöhnen. Anschar führte sie ein paar
Schritte weit von der Siedlung weg, zu einer Baumgruppe, deren wuchtige Stämme dicht beieinander standen, sodass sie bestmöglichen Sichtschutz boten. Nur wer sich unmittelbar in der Nähe befand, konnte sie sehen. Aus dem Dorf holte er ihr Tücher, die eher Lumpen ähnelten, aber sauber waren, und ein Bündel Seifenkraut. Dann entfernte er sich einige Schritte, um sie nicht zu stören. Es war ein eigenartiges Gefühl, ihn ganz in der Nähe zu wissen, während sie den Rock sinken ließ und ihre Bluse aufhakte. Sie schob den Träger des Unterkleides über die Schulter. Die kalte Morgenluft strich über die Wölbung ihrer Brust. Grazia berührte die empfindliche Spitze und schloss die Augen. Wie aufregend, so etwas im Freien zu tun und den Mann, den sie liebte, dicht bei sich zu wissen. Es ließ sie sich frei fühlen, geradezu verwegen. Dann aber rief sie sich zur Vernunft. Eilends kauerte sie sich hin und fing an, sich zu waschen.
    »Anschar?«
    »Ja?«
    »Beobachtest du mich auch nicht?«
    Er grunzte erheitert. »Würde ich mir nie erlauben.«
    Sie lächelte in sich hinein. Ihre erste Begegnung kam ihr in den Sinn. Er, der fremde schmutzige Mann, hatte versucht, ihr in den Ausschnitt zu schauen. Was war sie so heftig erschrocken! Seine Gegenwart hatte ihr damals schon den Atem geraubt. Eigentlich hatte sich seitdem nicht viel verändert. Beide waren sie wieder in einem verwahrlosten Zustand und von Wildnis umgeben.
    Sie schlüpfte in das Wüstengewand. Mit ihren Kleidern unter dem Arm stieg sie über die Wurzeln und breitete sie zum Entlüften über einem Ast aus. Wann sie sie wohl wieder tragen würde? Anschar nahm ihr den Schal aus der Hand, schob ihn durch die Öffnungen des Gewandes und verknotete ihn vor ihrem Bauch. Dann folgte sie ihm auf den
Dorfplatz. Etwas betreten blickte sie zu Boden, denn jeder hob den Kopf. Noch war der Platz nicht belebt; viele befanden sich offenbar noch in ihren Baumhütten. Frauen und Kinder heizten das Feuer unter dem Kessel an, hackten auf flachen Steinen Gras- und andere Wurzeln klein, zerrieben Getreide und kneteten flache Teige. All das taten sie blind, während

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