Das gläserne Tor
die Hand nach ihren Haaren aus, konnte sich aber nicht überwinden, sie zu berühren. Auf seiner Miene spiegelten sich Neugier und Abwehr.
»Ich bin müde«, sagte er, als verdanke er dies erst der Tatsache, einer solch ungewöhnlichen Frau zu begegnen. Tuhrod umfasste seinen Arm und gab ihr zischend zu verstehen, dass sie sich gedulden solle. Sie führte ihn zu ihrem Zelt, während zwei Frauen schwere Wasserkrüge hineintrugen. Der Rest des
Dorfes scharte sich um die Männer und das Reittier. Kinder zupften an den langen Zotteln des Tieres und rannten schreiend davon, als es ihnen den massigen Kopf zuwandte.
Es war so groß wie drei Ochsen und von Fell überwuchert wie ein Kamel. Auf dem dicken Hals saß ein nashornähnlicher Kopf, aus dem ein abgesägtes Horn ragte; ein ähnlich dicker Schwanz, sicherlich an die zwei Meter lang, reckte sich in die Höhe, als das Tier mitten auf den Dorfplatz kotete. Die Kinder zögerten nicht, die feuchten Äpfel mit bloßen Händen aufzusammeln und zum Trocknen fortzutragen. Inzwischen wurde Grazia von dem Anblick nicht mehr übel, aber sie schüttelte sich unwillkürlich.
Das Geschrei der Kinder und die mahnenden Rufe der Frauen waren zu viel für Grazia. Die Neuankömmlinge störten sich nicht daran, sie genossen es sichtlich, von freundlichen Händen umsorgt zu werden, tranken an Ort und Stelle ein Dutzend Wasserkrüge leer und ließen sich in die Zelte führen. Jeder Zeltbesitzer schien geradezu begierig, einen der Fremden beherbergen zu dürfen. Einige der Männer hatten Grazia natürlich entdeckt und starrten sie an, aber glücklicherweise näherten sie sich ihr nicht. Währenddessen scharten sich die Frauen emsig um die Kochstelle, um die Gäste bewirten zu können. Grazia überlegte, ob sie ihre Hilfe anbieten sollte, aber die Frauen würden sie nicht bei sich haben wollen, und der Lärm bereitete ihr Kopfschmerzen. Oder war es die Hitze? Es war so ein schreckliches Land!
Sie beschloss, zu Anschar zurückzugehen und ihm etwas vorzujammern. Da sah sie Tuhrod aus dem Zelt treten und sie heranwinken.
Würde sie jetzt Erklärungen bekommen? Voller Hoffnung folgte Grazia dem Wink und ging in Tuhrods Zelt. Der Stammesälteste saß auf einem Bett aus Fellen und Kissen und lächelte selig, denn eine Frau massierte seine Füße. Tuhrod
fütterte ihn mit Graswurzelbrei. Nun, da er sich seines alles verdeckenden Umhangs entledigt hatte, sah Grazia, wie klein er war, fast wie ein Kind. Sein Gesicht war von unzähligen Falten durchzogen, in denen Sandkörner hafteten, als seien sie eingewachsen. Haare besaß er kaum noch, aber ein paar gelbe Zähne, die er entblößte, als er Grazia eintreten sah. Er klopfte neben sich auf ein Kissen.
»Setz dich, fremde Frau. Tuhrod hat mir von dir erzählt. Verstehst du mich?«
Grazia hockte sich im Schneidersitz auf das Kissen und sortierte das Gewand, damit es ihre Beine bedeckte. »Ja, aber nicht gut. Bitte sprich langsam.«
Er nickte träge. »Ich bin Tuhram. Wie ist dein Name?«
»Grazia Zimmermann.«
»Sehr ungewöhnlich.« Er verzichtete darauf, den Namen zu wiederholen. »Du stammst in der Tat von weit her. Von woher?«
Das hatte sie schon Anschar und Tuhrod zu erklären versucht, aber es war hoffnungslos, dazu fehlten ihr zu viele Wörter, für die es in dieser Sprache womöglich gar keine Entsprechung gab. Hilflos schüttelte sie den Kopf. »Es ist anders … als hier.«
»Wie anders?«
Sie rutschte auf den Knien zu der Ecke, wo sie ihre geflochtene Tasche aufbewahrte, nahm das Handtäschchen heraus und schüttelte den Inhalt auf das Kissen.
» So anders.«
Seine dunklen Augen wurden groß. Er schob Tuhrods Schale beiseite und neigte sich vor, um nach dem Buch zu greifen, doch dann zog er die Hand zurück. »Das sind Dinge, die nicht hier sein sollten. Ebenso wenig wie du.« Er lehnte sich in die aufgehäuften Kissen zurück. »Tu das wieder weg und erzähle, wie du hergekommen bist.«
Vielleicht war er abergläubisch. Auch Tuhrod hatte diese Sachen nur ungern angefasst. Grazia fragte sich im Stillen, ob Anschar wohl mutiger wäre als die beiden. Sie verstaute ihre harmlosen Habseligkeiten wieder in der Tasche und setzte sich zurück auf ihren Platz. Mit Gesten und umständlichen Umschreibungen versuchte sie wiederzugeben, was ihr widerfahren war. Auf Tuhrams zerfurchter Miene breitete sich Fassungslosigkeit aus.
»Eine Landschaft voll Wasser?«, fragte er und sah dabei Tuhrod an.
»So hat sie es mir auch erzählt«,
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