Das gläserne Tor
erwiderte die Dorfherrin, während sie ihm den Rest des Breis in den Mund schob. Er leckte sich die Mundwinkel und schien darüber nachzusinnen, ob Grazia nicht bloß verrückt war.
»So etwas gibt es in der Hochebene. Du bist gefallen – vielleicht von dort herunter? Wohl kaum! Kein Mensch überlebt so einen Sturz. Und selbst wenn, wie bist du dann hergekommen? So tief in die Wüste dringen die Hochländer nicht vor.«
Tuhrod räusperte sich. »Einige haben es getan. Sechs Männer. Den letzten, der am Leben war, verschonten wir.« Sie trug die Schale weg und brachte einen Wasserbalg, den sie ihm an den Mund hielt. Er schob ihn jedoch weg.
»Ein Mann aus dem Hochland ist hier?«
»Ja. Du sollst entscheiden, was mit ihm geschehen soll.«
»Hier jagt eine Überraschung die andere!« Er wandte sich wieder Grazia zu und klopfte an seine Stirn. »Erklären kann ich es mir nicht, außer dass du tatsächlich gefallen bist und etwas bei dir durcheinandergeraten ist. Oder bist du eine Nihaye? Nein, sicher nicht.«
»Eine … Nihaye?«, fragte Grazia. »Was ist das?«
»Die Menschen der Hochebene glauben an Halbgötter. Ob das stimmt, wer kann das sagen? Vielleicht nicht einmal
dieser Mann, den Tuhrod erwähnte. Hat er nichts darüber gesagt?«
Ihr schwirrte der Kopf. Sie verstand Tuhram nur, weil Anschar inzwischen einiges von seiner Religion erzählt hatte. Viele der Worte kannte sie bereits, nur an die Nihaye konnte sie sich nicht erinnern. Halbgötter. »Er hat erzählt. Viel erzählt. Aber ich habe nicht immer verstanden. Vieles nicht. Es ist mühsam.«
»Du sprichst schon sehr gut. Der Rest kommt mit der Zeit.«
»Mit der Zeit? Ich möchte zurück nach … wo ich herkomme!«
»Vielleicht hat der Herr des Windes dich hergetragen. Es gibt so viele Möglichkeiten.«
Die Gelassenheit des Stammesältesten machte sie unruhig. Sie musste an sich halten, nicht unfreundlich zu klingen. »Das hilft mir nicht. Was soll ich tun?«
»Hierbleiben, einen Mann suchen, der es wagt, sich mit dir einzulassen, ihm Kinder schenken und warten«, antwortete er, und das schien er ernst zu meinen. »Irgendwann kommt die Zeit, wo du verstehen wirst.«
»Und was tue ich bis … bis dahin?«, rief Grazia und sprang auf. »Gras flechten?« Ärgerlich stapfte sie aus dem Zelt. Kaum war sie draußen, schämte sie sich für ihr Benehmen. Ihre Mutter würde ihr einiges erzählen! Sie stellte sich vor, wie Luise Zimmermann mit diesem Wüstenmann zu reden versuchte, und musste, trotz ihres Heimwehs, lachen.
»Ach, das ist doch alles zu dumm«, schnaufte sie auf Deutsch und stapfte zur Höhle zurück. Ins Zelt wollte sie nicht, und anderswo gab es für sie keinen halbwegs erträglichen Platz. Sie blickte durch die Öffnung und sah Anschar zusammengerollt auf dem Sandboden liegen. Als sich die Höhle verdunkelte, richtete er sich sofort auf.
»Und?«, fragte er. »Bist du klüger?«
»Nein. Nur ich weiß jetzt, er sagte, ich sei vielleicht eine Halbgöttin.«
Er prustete. »Du? Nihayen wurden vor langer Zeit gezeugt, als die Götter noch auf dem Hochland weilten. Dort streiften sie oft herum und beschliefen Menschenfrauen. Wärst du eine Nihaye, müsstest du eine uralte verschrumpelte Vettel sein. Nein, es gibt sie nicht mehr, und so ein schreckhaftes Mädchen wie du ist ganz bestimmt keine Nihaye.«
Schreckhaft? Sie? Stimmte das? Sie verkniff es sich, nachzuhaken; er würde sie nur weiterhin auslachen. »Bitte erzähl das Geschichte von den zehn Männern. Kriegern. Vielleicht verstehe ich sie besser jetzt.«
» Die Geschichte. Wie du willst«, sagte er ergeben und kroch näher. Grazia ließ sich an der Felswand nieder, deren Schatten mittlerweile das ganze Dorf erfasst hatte. Es war merklich kühler geworden, zu dieser Stunde wurden die Temperaturen angenehm. Wenn sie nicht an ihr Zuhause dachte, an ihre Familie und das lebhafte Berlin, ihre Lieblingsbücher und den frischen Sommerregen am Wannsee, die Spaziergänge im Grunewald oder auf der Pfaueninsel, dann konnte sie die Schönheit der Wüste würdigen. So war es selten, denn das Heimweh nagte beständig an ihr. Sie konnte hier nicht bleiben, keiner von diesen Wüstenleuten vermochte ihr zu helfen. Aber vielleicht verhielt es sich in dieser sagenumwobenen Hochebene anders. Vielleicht konnte ihr dort jemand sagen, wie sie den Weg zurück durch diese … Schleuse fand.
Und warum sie überhaupt hindurchgefallen war.
In der Nacht wurde sie geweckt. Tuhrod befahl ihr, das Zelt zu
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