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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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verlassen. Schläfrig tastete Grazia nach einer Wolldecke und wollte aufstehen. Doch da war es Tuhram, der ihr mit der Hand bedeutete, sitzen zu bleiben, und Tuhrod anwies,
für Licht zu sorgen. Kaum hatte Tuhrod die Deckenlampe entzündet, betraten mehrere Männer das Zelt. Argwöhnisch musterten sie Grazia, aber keiner von ihnen wandte etwas gegen ihre Anwesenheit ein.
    »Hab keine Angst«, sagte Tuhram, der sich aufgesetzt hatte und wie ein kleiner König inmitten des Zeltes thronte. »Ich will über den Fremden richten. Hör dir das ruhig an, vielleicht ist es ja nützlich für dich. Aber misch dich nicht ein und bleib unsichtbar. Das ist eine Angelegenheit der Männer. Nur Tuhrod darf reden.«
    Wenigstens das ist nicht viel anders als daheim, dachte Grazia spöttisch und rutschte bis zu den Decken zurück, die Tuhrods Schlafbereich begrenzten. Die Männer ließen einen Lederbalg kreisen, der den Geruch von vergorenem Wurzelsud aussandte. Noch warteten sie und unterhielten sich leise. Sie wirkten entspannt, Grazia hingegen kaute vor Aufregung an ihrem Daumennagel. Als am Eingang die Zeltplane hochflog und Anschar mit kleinen Schritten hereinkam, war ihr danach wegzulaufen. Oder sich wenigstens in den hinteren Wohnraum zu verkriechen.
    Vier Männer führten ihn vor die Versammelten, die ihn feindlich, aber auch neugierig musterten. Sein Blick streifte Grazia. Sie las darin flüchtiges Erstaunen.
    Seine Hände waren wieder im Rücken gefesselt. Er wirkte müde. Vierundsechzig Tage war er nun schon Gefangener der Wüstenmenschen. Für Grazia waren es zehn Tage weniger. Inzwischen wusste sie, dass ein Monat vierzig Tage hatte und im Hochland in vier zehntägige Wochen eingeteilt wurde, was in der Wüste bekannt, aber unüblich war. Nach seiner Zeitrechnung war er also seit anderthalb Monaten gefangen, aber er gab sich Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Aufrecht blieb er vor den Versammelten stehen.
    »Knie dich hin«, sagte Tuhram.

    Was sich auf diesen Befehl hin in Anschars Gesicht abspielte, konnte Grazia nur als heilige Empörung bezeichnen. »Hinknien? Vor euch ?«
    »Ich will nicht, dass mir der Nacken steif wird, wenn ich dich ansehe.«
    »Was schert mich das!«
    Die Männer packten seine Schultern und zerrten an ihm herum. Er drückte die Knie durch.
    »Du sollst dich hinknien!«, keifte Tuhrod.
    Hasserfüllt sah Anschar sie an. Mit einem Mal sank der Wächter, der hinter ihm stand, zu Boden. Anschar hatte ihm die Schulter ins Gesicht gerammt, und zwar so schnell, dass Grazia kaum begriff, was geschehen war. Die Männer wollten ihn fluchend niederwerfen, doch er wehrte sich trotz seiner Fesseln so geschickt, dass sogleich der nächste zu Boden ging. Dabei brüllte er seine Wut hinaus. Sein Gesicht war gerötet, und die Armmuskeln spannten sich, als habe er endlich die Kraft, die lästige Fessel zu zerreißen.
    Das gelang ihm nicht, aber er schaffte es, stehen zu bleiben. Einige Männer hatten sich erhoben. Auch Grazia war aufgesprungen. Einer hatte plötzlich einen Wurfspieß in den Händen.
    »Anschar!«, schrie sie. »Bitte hör auf!«
    Er hielt still. Die gehärtete Spitze des Spießes drückte gegen die Kuhle seines Schlüsselbeins. Und doch war sie sich sicher, dass es ihr Ruf gewesen war, der ihn zur Besinnung brachte. Die Männer setzten sich wieder, bis auf zwei, die hinter ihn traten, um die beiden verletzten Wächter zu ersetzen. Anschar starrte auf den Mann, der den Speer hielt.
    »Bitte«, sagte sie, nun leiser. »Bitte lass dir nicht töten.«
    Seine Brust hob und senkte sich schwer. Stoßweise kam sein Atem und verriet die Wut, die noch in ihm tobte. »Lass dich nicht töten.«

    »Ja, ist gut«, presste sie heraus.
    »Deinetwegen, Feuerköpfchen.« Er ließ sich auf die Knie fallen. Nur langsam vermochte er sich zu beruhigen; er hielt den Kopf gesenkt und war in den nächsten Minuten ganz mit sich und seiner Demütigung beschäftigt. Fast sah es so aus, als kämpfe er mit den Tränen. Aber da täuschte sie sich gewiss. Anschar heulte, weil er knien musste? Undenkbar.
    »Tuhrod«, sagte Tuhram, nachdem sich alle wieder beruhigt hatten. »Berichte uns, was der Fremde getan hat.«
    Die Dorfherrin brachte ein Schwert, stellte sich vor Tuhram auf und hielt es, mit der Spitze nach unten, von sich.
    »Damit hat er acht unserer Männer erschlagen. Ihre Familien sind in Trauer.«
    Anschars Nasenflügel blähten sich. Es war seine einzige Reaktion auf ihre Worte.
    »Er sagte, er habe sich und seine

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