Das gläserne Tor
sich gepresst. Hinter sich hörte sie Tuhram stöhnen, als er sich erhob und in Tuhrods Schlafbereich geführt wurde. Wenige Minuten später schnarchte er. Tuhrod löschte die Lampe und legte sich in der Nähe hin.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Nicht seinetwegen. Er ist nicht wichtig für dich.«
War er das nicht? Immerhin hatte er Grazia die Sprache gelehrt und sich dabei viel Mühe gegeben, ohne dass es ihm selbst von Nutzen war. Mit keinem anderen Menschen hatte sie hier mehr Zeit verbracht. Da sollte ihr egal sein, wenn er starb?
Grazia setzte sich auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Durst plagte sie, also schälte sie sich aus den Decken. Ihr eigener Schweißgeruch stieg ihr in die Nase, während sie zu den Vorräten wankte und sich Wasser aus dem Tonkrug schöpfte. Anfangs hatte sie gar nicht mehr daran gedacht, dass sie das trübe, warme Wasser nicht zu trinken brauchte. Zu sehr hatte der Anblick der zwei Monde sie erschreckt. Erst nach mehreren Tagen hatte sie sich wieder Wasser gemacht, und es war ihr so leicht gefallen wie zuvor. Dennoch behielt sie es bei, ab und zu einen Becher aus dem Krug zu schöpfen, denn andernfalls wäre es wohl aufgefallen.
Sie kroch auf ihren Schlafplatz zurück, holte das Buch aus ihrer Tasche und steckte die Nase zwischen die Seiten. Nie zuvor war ihr aufgefallen, dass es duftete; erst jetzt, da sie ständig von fremden Gerüchen umgeben war. Nichts von dem, was sie als Erinnerung an ihr Leben bei sich trug, hatte einen eigenen Geruch, nur dieses Buch. Und vielleicht die Uhr. Wie spät mochte es sein? Sie war erst mit den ersten Morgengeräuschen eingenickt, so sehr hatte sie die Verhandlung beschäftigt. Müde kramte sie nach der Uhr und klappte sie auf. Während der letzten Wochen hatte sie festgestellt, dass ein Tag in dieser Welt fünfundzwanzig Stunden dauerte. Wenn man das berücksichtigte, ließ sich die Uhr dennoch gebrauchen, und daher wusste sie nun, dass sie den halben Tag verschlafen hatte. Ihr Finger strich über den Rand. Wäre es ihre Uhr, befände sich jetzt ein Bild von Friedrich darin. Sie versuchte ihn sich vorzustellen, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen. Da waren seine blonden Haare, der Schnauzbart. Die hochgekrempelten Hemdsärmel. Der Schlamm an seinen Armen. Mehr sah sie nicht. Stattdessen schoben sich dunkle Augen unter ebenso dunklen Brauen vor ihr inneres Auge. Sie waren so viel deutlicher, hatte sie doch erst in der Nacht ihren Blick darin versenkt. Und jetzt? Mit einem leisen
Aufschrei kam sie auf die Füße. Das Leben mochte schon aus ihnen gewichen sein – und sie hockte hier herum!
»Tuhrod!«, rief sie. Niemand war hier, nur die Ziege, die es sich auf dem besten Kissen gemütlich gemacht hatte. Grazia ließ die Uhr fallen und stürzte ins Freie. Ihr erster Blick galt der Höhle, die im nachmittäglichen Schatten lag.
Der Eingang war frei.
»Nein! O Gott, lass es nicht wahr sein.«
Grazia raffte das Gewand und stolperte über den Sand. Der Gestank, der aus der Höhle drang, war schwächer als sonst, der Stein musste vor einiger Zeit auf die Seite geschoben worden sein. Sie fiel auf die Knie und blickte ins Innere. Vielleicht hatten sie ihn ja angebunden? Nein, er war nicht zu sehen. Sie schob sich hinein und drehte sich auf den Fersen, während ihr Blick die Zeichnungen an den Wänden streifte.
»Anschar?«, fragte sie leise. Da war noch die hintere Höhle, in der er seine Notdurft verrichtet hatte. Dort nachzusehen, kostete sie große Überwindung, und das nicht nur, weil es so stank. Allein die Vorstellung, ihn mit hochgezogenem Rock zu überraschen, schüttelte sie.
Aber natürlich war er nicht hier, sie sah in der Düsternis nur einen aufgeschichteten Sandberg. Hastig kehrte sie ins Freie zurück, wo sie Tuhrod in die Arme lief.
»Er ist fort«, sagte Tuhrod. Hinter ihr hatten die Frauen neugierig die Köpfe gehoben.
»Was heißt das?«, schrie Grazia, sich an sie klammernd. »Habt ihr ihn … verscharren? In der Wüste?«
»Beruhige dich.« Tuhrod löste ihre Hände, führte sie zur Feuerstelle und nötigte sie zum Hinsetzen. Von einem Stapel nahm sie eine Schale und füllte sie mit dem üblichen Brei. Diesmal jedoch goss sie aus einer hölzernen Flasche eine scharf riechende Flüssigkeit dazu. Es handelte sich wohl um den Schnaps, den man hier aus den Graswurzeln gewann.
Tuhrod rührte ihn mit einem Stück Brot unter und reichte Grazia die Schale. »Iss, das wird dich beruhigen. Derweil erzähle ich
Weitere Kostenlose Bücher