Das gläserne Tor
dir, was geschehen ist.«
Sie ließ sich Zeit dabei, schöpfte für sich selbst ein wenig von dem Brei und setzte sich nieder. Grazia aß etwas, auch wenn ihre Kehle viel zu eng war.
»Er ist tot, ja?«
»Nun, jetzt vermutlich noch nicht. Tuhram konnte sich nicht dazu durchringen, ihn zu verurteilen. Er sagte, er kenne die Wahrheit nicht, und daher wolle er nicht die Schuld auf sich laden, falsch zu entscheiden. Er hat es dem Herrn des Windes überlassen. Die Felsenkette dort am Horizont, siehst du sie? Dorthin hat man ihn gebracht. Ohne etwas zu essen, ohne Wasser. Wenn der Herr des Windes ihn retten will, wird er es tun.«
Grazia stellte die halb geleerte Schale auf den Boden. Ihr war übel, ihre Kehle brannte. Dieser Wurzelschnaps war schlimmer als alles, was sie je zu sich genommen hatte. Außerdem schmerzte ihr Rücken, da sie ihr Korsett nicht trug. Stotternd erklärte sie, dass sie sich wieder hinlegen wolle, und Tuhrod brachte sie zurück ins Zelt.
»Kann er leben? Überleben?«, flüsterte sie, während sie sich unter den Decken verkroch. »Dass euer Gott ihn rettet … das glaube ich nicht. Glaubst du das?«
»Ich wüsste nicht, wie man da draußen überleben soll. Soviel ich weiß, hat Tuhram die Anweisung gegeben, seine Fußfessel nicht zu entfernen, damit es ihm nicht gelingt, hierher zurückzulaufen und uns womöglich im Schlaf zu überfallen. Wir haben ihn nicht getötet – aber er ist schon tot, auch wenn er noch leben mag.«
Kurz darauf war Grazia allein im Dämmerlicht. Die Zeltbahnen knisterten in der Brise, draußen herrschte das übliche Treiben, so als sei nichts geschehen. Die Geräusche hüllten sie
ein. Doch bei dem Gedanken an Anschar schwand ihre Müdigkeit. Vielleicht lebte er noch! Wie lange kam ein Mensch ohne Wasser aus? In dieser Hitze? Wenn er bei den Felsen war, fand er wenigstens Schatten. Fanden sich dort Quellen oder Brunnen? Wohl kaum, andernfalls hätte man ihn nicht dorthin gebracht. Gab es einen Pfad, einen Weg, vielleicht denselben, den er und seine Leute gekommen waren? Das war schon eher denkbar, nur, was half ihm das? Er konnte mit gefesselten Füßen kaum gehen, und dass jemand ihm über den Weg lief, war mehr als unwahrscheinlich.
Sie war die Einzige, die ihm helfen konnte. Sie allein.
Grazia setzte sich auf. Früher hatte sie immer bedauert, ein ereignisloses Leben zu führen. Nicht allzu streng, aber ereignislos. Die Zukunft an der Seite eines Archäologen versprach Abwechslung. Ja, das war ihre Hoffnung gewesen: dass sie an Friedrichs Seite ein wenig daran teilhaben könnte, die Geschichte zu erforschen. Wie aufgeregt war sie gewesen, als er von dem Fund auf der Pfaueninsel erzählt hatte! Dabei zu sein, wie er dort grub, war ihr als das Höchste erschienen, das sie bisher an Abenteuern erlebt hatte. Und jetzt? Jetzt war sie selbst Teil einer Welt, die aus der Vergangenheit zu stammen schien. Und nicht nur das, sie dachte daran, sich in Gefahr zu begeben, um einen Mann zu retten. Sie musste dort hinaus.
Grazia schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte auf. Dies hier war etwas ganz anderes, als sich aus dem Haus zu schleichen, um heimlich einen Ausflug zur Pfaueninsel zu machen. Dabei ging es nicht allein um Anschar: Es ging um sie. Inzwischen war ihr klar, dass sie von hier niemals den Weg zurück finden würde. Die Hochebene war ihre einzige Hoffnung. Dort gab es im Gegensatz zu den Wilden eine Art Hochkultur. Dort gab es Wissen .
Ihre Knie bebten vor Aufregung, als sie durchs Zelt
huschte, um Anschars Schwert zu suchen. Sie fand es unter den Kissen, es steckte in einer hölzernen Scheide, die mit Goldblechen verziert war, die den Schamindar darstellten. Ortband, Scheidenmundstück und Knauf waren mit dicken Goldblechen verziert. Das goldreiche Mykene kam ihr in den Sinn, daher fand sie es nicht so erstaunlich, dass die Klinge, die sie vorsichtig ein Stück herauszog, aus Bronze bestand. Liebend gern hätte sie sich die Waffe genauer angesehen, doch es war Eile geboten. Also legte sie sie auf ihre Decke, dazu einen halb vollen Wasserbalg, ihre Tasche und ein paar ihrer geflochtenen Grasbänder. Dann knotete sie die Decke zusammen, verbarg sie in ihrer Schlafecke und legte sich hin.
Nach einer ganzen Weile kamen Tuhrod und Tuhram herein und legten sich zur Ruhe. Auch draußen verebbten die Gespräche, die Ziegen wurden in ihr Gatter gebracht, die Feuerstelle erlosch zischend. Grazia nickte ein, und als sie wieder aufwachte, herrschte Totenstille. Sie
Weitere Kostenlose Bücher