Das gläserne Tor
setzte sich auf und lauschte. Als sie sicher war, dass die Dorfherrin und ihr Gast schliefen, kleidete sie sich an und klemmte sich das Bündel unter den Arm. Am Zelteingang blickte sie zurück, obwohl sie kaum mehr als Schatten sah. Die kleine Ziege fiepte leise, Grazia beugte sich hinab und streichelte sie. Es tat ihr leid, klammheimlich verschwinden zu müssen, aber anders ging es nicht. Tuhrod würde sie niemals in die Wüste laufen lassen, und eine Rückkehr gab es nicht.
An der Feuerstelle stopfte sie Reste des gekochten Breis in einen Brotfladen und verstaute ihn in der Decke. Dann schlich sie zwischen den Zelten hindurch zum Rand des Dorfes. Es war nicht schwer, ungesehen davonzukommen, denn nur ein einziger Mann zog nachts seine Runde. Sie wartete, bis er am anderen Ende des Dorfes war, dann lief sie hinaus, den Blick auf die schwarze Felsenkette am Horizont geheftet, die zu erreichen vermutlich die ganze Nacht dauern würde.
Der größere der beiden Monde beleuchtete die sandige Ebene. Es wehte kein Wind, alles war traumgleich still. Grazia fühlte keine Angst, nur Sorge um Anschar. Der Gedanke, ihn tot vorzufinden, wenn sie zögerte, machte ihre Schritte fest.
5
S ie hatten es sich anders überlegt: Sie hatten jemanden ausgeschickt, ihn zu töten. Wer immer es war, er machte sich nicht die Mühe, leise aufzutreten. Warum auch, schließlich lag er, Anschar, bäuchlings im Wüstensand, und das aus purer Erschöpfung. Er versuchte sich einzureden, noch nicht verloren zu sein, aber ohne Wasser war er es. Den ganzen Tag war er mit kurzen Schritten am Fuß der Felsenkette herumgestolpert und hatte etwas gesucht, womit sich die lästige Fessel durchtrennen ließ. Ohne sie wäre er weitergewandert, hin zur nächsten Felsenkette einige Wegstunden weiter nördlich. Doch scharfe Kanten gab es hier nicht, der Wind hatte die Felsen rund geschliffen. Es gab auch nichts, womit sich der brennende Durst stillen ließe. Pflanzen, ja … an einigen Stellen bedeckten sie weitflächig den Boden, doch sie waren hart und ledrig, selbst die Wurzeln. Doch jetzt würde er noch ein letztes Mal in seinem Leben kämpfen und den ausgeschickten Jäger um seinen Wasservorrat erleichtern. Selbst im Sterben war ein einziger Wüstenmann kein Gegner für einen der Zehn.
Er verbarg das Gesicht in der Armbeuge. Aus dem Augenwinkel sah er eines der langen, unförmigen Gewänder
flattern und die Beschläge seiner Schwertscheide in der Sonne aufschimmern. Sie wollten ihn tatsächlich mit seiner eigenen Waffe erschlagen. Seit wann glaubten diese Korbflechter, damit umgehen zu können? Als sein Suchtrupp erschlagen worden war, hatten sie nur ihre Spieße und Steine benutzt. Mit schierer Überzahl hatten sie gesiegt – die Schande ließ noch immer sein Blut kochen und weckte seine Lebensgeister. Ein Schatten näherte sich ihm, Finger berührten seine Schulter. Er fuhr hoch, packte die Gestalt und warf sie zu Boden. Ein Schrei, viel zu hell für einen Mann, gellte in seinen Ohren und erstarb abrupt.
Unter ihm lag eine Frau. Ihre Augen waren geschlossen, das Schwert war ihr aus der Hand geglitten. Wahrhaftig, es war die Rothaarige!
»Bei Inar, das kann einfach nicht wahr sein! Was tust du hier?« Er gab ihr links und rechts einen kräftigen Klaps auf die Wangen. »Wach auf. Wach auf!«
Sie tat es nicht. Die Angst, sie getötet zu haben, brandete durch seinen Körper, und ihm wurde noch heißer, als es ohnehin schon war. Er hob Grazia auf und trug sie in den Schatten zweier dicht beieinanderstehender Felswände, fast schon eine kleine Schlucht. Vorsichtig legte er sie auf den Boden, steckte die Hand unter die Kapuze ihres Umhangs und betastete ihren Schädel. Ein wenig Blut fand sich auf seinen Fingerkuppen, aber schlimm schien es nicht zu sein.
»Komm schon, Feuerköpfchen.« Erneut versuchte er sie zu wecken, indem er an ihrem Kinn rüttelte. Sie atmete flach. Das war ihm schon vor Wochen aufgefallen, aber jetzt beunruhigte es ihn. Und warum hatte sie so merkwürdig steif in seinen Armen gelegen? Er rollte ihr Gewand hoch. Zum ersten Mal sah er ihre nackten Unterschenkel. Ein nicht zu verachtender Anblick, vor allem deshalb, weil er so ungewohnt war. Es folgte eine Fülle einstmals weißen Stoffes, und
dann fand er die Erklärung, eine Art Brustpanzer, der sie von den Achseln bis zu den Leisten bedeckte. Anschar überlegte, ob er das Ding entfernen sollte, aber es sah nicht so aus, als sei das einfach. Außerdem musste es ja seinen Grund
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