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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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haben, weshalb sie es trug. Vielleicht weil ihre Taille so ungewöhnlich schmal war? Da er keinen zusätzlichen Schaden anrichten wollte, schlug er das Gewand wieder herunter. Sie wirkte entspannt, sogar ein kleines Lächeln lag auf ihren Lippen. Anschar knüpfte das Bündel von ihrer Schulter. Darin fanden sich nur ihre Habseligkeiten, ein wenig zu essen und noch viel weniger zu trinken. Er schüttelte den Kopf, als er den nur halb gefüllten Lederschlauch hochhielt. Wie lange sollten sie damit überleben? Einen Tag oder gar zwei?
    »Da, wo du herkommst, weiß man wohl nicht, was Durst ist, was?« Er öffnete ihren Mund und ließ etwas Wasser hineinlaufen. Sie schluckte, doch sie wachte nicht auf. Dann trank auch er. Es kostete ihn große Überwindung, den Schlauch wieder sinken zu lassen, denn sein Durst war längst nicht gelöscht. Doch es genügte, die nächsten Stunden zu überstehen.
    Hunger hatte er keinen, also ließ er den geschmacklosen Brei, wo er war. In einer geflochtenen Tasche fand sich außer einem hellen Kleiderbündel eine kleinere Tasche aus weißem besticktem Stoff. Er schnürte sie auf und schüttelte sie aus. Wie er es erwartet hatte, fiel auch das Ding heraus, mit dem Grazia ihn hatte loskaufen wollen. Es war ein flaches rundes Schmuckstück, auf sehr feine und fremdartige Weise verziert. Was sollte daran nützlich sein? Und dieser Papierstapel, der an einer Seite zusammengefügt war? Anschar befingerte die Blätter. Sie waren mit äußerst gleichmäßigen Schriftzeichen bedeckt.
    »Du musst wirklich von sehr weit her kommen«, sagte er, legte den Papierstapel beiseite und fand eine weitere Tasche,
diese war jedoch winzig und mit einem metallenen Verschluss versehen. Darin fanden sich ein bunt bemaltes und zerknicktes Stück Papier und – Münzen.
    »Wer hätte gedacht, dass du etwas bei dir hast, von dem ich auf Anhieb sagen kann, was es ist?« Er nahm eine Münze zwischen die Finger und hielt sie ins Sonnenlicht. Ein Kopf war zu erkennen, mit streng zurückgekämmten und erstaunlich kurzen Haaren. Und einem hässlichen Bart unter der Nase. Wer sollte das sein? Die Münzen des Hochlandes zeigten das Götterpaar Inar und Hinarsya, vielleicht war dieser hier ebenfalls ein Gott. Aber in einem so fernen Land konnte es ganz anders sein. Wie auch immer, in seiner Heimat war dieses Geld so wertlos wie die Fellschnüre, welche die Wüstenbewohner als Zahlungsmittel gebrauchten.
    Wenigstens für das Bündel Grasbänder hatte er Verwendung.
    Er legte die Decke unter Grazias Kopf und stand auf, das Schwert in der Hand. Mit einem vielversprechenden Zischen glitt es aus der Scheide, und wenige Augenblicke später hatte er sich seiner Fußfessel entledigt. Er verscharrte sie im Sand, für den Fall, dass später Männer aus dem Dorf kamen, um nach seiner Leiche zu sehen. Eine überflüssige Maßnahme, denn was machte es für einen Unterschied, ob er hier getötet wurde oder zwei Tagesmärsche weiter östlich in der Sonne verreckte? Aber das waren nur Gedanken, sie beeinflussten sein Handeln nicht. Einer der Zehn gab niemals auf.
    Anschar steckte das Schwert in die Scheide zurück. Es gab keinen Aufschub, wenn er das Unmögliche versuchen wollte. Jetzt in der Hitze des Tages lief es sich zwar mühseliger als nachts, aber mit diesem bisschen Wasser war keine Zeit zu verlieren. Er machte sich aus den Grasbändern einen Schwertgurt und band ihn sich um die Mitte. Dann, nach einem letzten Versuch, Grazia aufzuwecken, fesselte er ihre
Hände. Er würde das dumme Ding, das an sein Schwert, aber nicht an Wasser gedacht hatte, tragen müssen.

    Ihr Hinterkopf schmerzte, aber das war nicht das Schlimmste. Da war diese unerklärliche Schaukelei, die ihr Übelkeit verursachte. Noch bevor es ihr gelang, die Augen zu öffnen, erspürte sie schweißnasse Haut unter den Armen. Fremder Schweißgeruch stach in ihre Nase. Und – das Schlimmste von allem – ihre Kehle war wie ausgedörrt. Dunkel erinnerte sie sich daran, dass sie dem leicht abhelfen konnte. Sie musste sich nur konzentrieren, an die Havel denken, an die Unmengen von Wasser, die ein fremder Mann durch sie hindurchgepumpt hatte. Es fiel ihr schwer. Sie war in der Wüste, das wusste sie. Sie erinnerte sich auch, in der Nacht fortgelaufen zu sein und Anschar gefunden zu haben. Dann war er über ihr gewesen, wie ein Raubtier hatte er sie angefallen und sie zu Boden gestoßen.
    Die Lider zu heben, war eine kaum zu bewältigende Anstrengung. Sie versuchte es, aber

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