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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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abgeschafft worden, aber Grazia hätte nie zu träumen gewagt, die Schutzgebiete zu besuchen – geschweige denn ein Land außerhalb ihrer Welt.
    Bevor sie sich entkleidete, vergewisserte sie sich noch einmal, dass die Frauen nicht heimlich zusahen, dann stieg sie halbwegs beruhigt in das Wasser. Kühl war es und ließ ihre Haut angenehm prickeln. Welch eine Wohltat! Wenn sie
sich setzte, versank sie bis zu den Brüsten darin, und es war Platz genug, sich der Länge nach auszustrecken. Der Raum war wie ein Schacht, mit einem kleinen Fenster versehen und verkleidet mit türkisfarbenen Fliesen, die ein Wellenmuster andeuteten. Fische waren darin abgebildet, gar einer, der ein Delfin sein mochte. Auch wenn diese Menschen kein Meer kannten, hatten sie die Erinnerung daran bewahrt.
    In einer Dose fand Grazia in Streifen geschnittene Blätter. Eine Art Seifenkraut? Sie zerrieb ein paar dieser Streifen im Wasser, und tatsächlich schäumte es zwischen ihren Händen. Zügig wusch sie sich, ebenso die Haare, die sie sofort auskämmte und hochsteckte. Allzu lange wollte sie sich nicht darauf verlassen, dass die Sklavinnen Wache hielten, also stieg sie beizeiten aus dem Wasser und rieb sich mit dem bereitgelegten Tuch trocken. Gern hätte sie ihren Füßen mehr Aufmerksamkeit gewidmet, denn die sahen schrecklich aus – geschwollen und schwielig. Nun, das musste warten. Aus ihrer Tasche holte sie ihre Kleider und schüttelte sie aus. Das Sommerkleid war zerknittert, das Unterkleid ebenso. Und ihr Unterzeug stank nach all den Monaten, aber das war heute nicht mehr zu ändern. Rasch stieg sie ins Beinkleid, zog die Strümpfe an, zupfte an den Nähten, bis sie richtig saßen, und hüllte sich in das Korsett. Es folgte der seidige Unterrock, der wenigstens ein bisschen kühlte, und als sie sich mühsam das Sommerkleid überzog und richtete, hörte sie Anschars Stimme.
    »Was wird denn das ? Macht, dass ihr fortkommt.«
    »Herr, das geht nicht«, erwiderte eine der Frauen, die Stimme ein ängstlicher Hauch. »Die …«
    »Was?«, schnaubte er, schon gefährlich nahe. Jeden Augenblick würde er die Decke herunterreißen.
    »So ein Stiesel«, murmelte Grazia und rief: »Ich habe ihnen gesagt, dass sie die Decke hochhalten sollen!«

    Er brummte etwas in sich hinein. Seine Schritte entfernten sich. Sie kämpfte mit den Häkchen des Spitzenkragens, und als sie ihre Toilette endlich beendet hatte, raffte sie ihre herumliegenden Sachen auf und zupfte an der Decke. Die Frauen ließen sie sinken und eilten hinaus.
    Anschar saß auf der Bank an einem der Pfeiler, immer noch in seiner zerschlissenen Reisekleidung, hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen vergraben. Ordentlich stellte Grazia die Tasche an der Wand ab, richtete sich auf und strich den Stoff glatt.
    »Anschar?«
    Er hob den Kopf. So blickte niemand drein, der nach so langer Zeit von einer gefährlichen Reise zurückkehrte, selbst wenn er seinen Auftrag nicht erfüllt hatte. Aber ihr blieb keine Zeit, darüber nachzusinnen, denn seine Augen weiteten sich, als könne er nicht glauben, was er sah.
    »So sieht das also aus«, sagte er. »Ich habe das alles ja nur zerknüllt gesehen. Jetzt sag aber nicht, alle Frauen in deinem Land tragen das.«
    »Doch, natürlich.«
    »Aber so stolperst du ständig.«
    »Nicht, wenn man den Stoff so hält.« Mit einer Hand hob sie den Rock ganz leicht an und machte zwei Schritte vorwärts. Das Rascheln des Unterrocks kam ihr inzwischen unverhältnismäßig laut vor. Ob er es wohl wahrnahm? Dann zeigte sie ihm die französische Art des Raffens und legte beide Hände an die Hüften, sodass ihre Fesseln sichtbar wurden. Das fand sie recht gewagt, auch wenn sie längst begriffen hatte, dass er das nicht so sah. Nach zwei weiteren Schritten ließ sie den Stoff los. »Siehst du?«
    »Ja … äh … kannst du das noch einmal machen?«
    Sie tat es und hob den Rock noch ein klein wenig höher.
    »Wieso sind deine Beine plötzlich schwarz?« Er schien vergessen
zu haben, dass er ihre Strümpfe schon gesehen hatte. Oder er erkannte den Zusammenhang nicht. Grazia ließ den Stoff fallen und zuckte die Achseln, da sie beim besten Willen nicht wusste, wie sie das erklären sollte. Sie hoffte nur, dass er nicht auf sie zustürmte und den Rock hochzerrte, um sich das näher anzuschauen. Was sie ihm ohne weiteres zutraute.
    »Und wie geht man mit so einem Kleid eine Treppe hoch?«, fragte er schließlich.
    »Die Frau geht vor dem

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