Das gläserne Tor
Name?«
»Grazia.«
Breitbeinig ließ er sich auf einer der gemauerten Bänke nieder und winkte sie heran. »Wo kommst du her?«
»Aus Preußen.«
»Nie gehört. Wo soll das sein? Und wer herrscht dort?«
»Ein Adelsgeschlecht. Es ist ein Königreich, aber der König regiert noch über andere Länder. Das ist wohl ganz ähnlich wie hier. Es ist jedenfalls sehr weit weg.«
»Dann scheint er sehr mächtig zu sein?«, fragte er lauernd.
»O ja, das ist er.«
»Bei Inar! Ich hoffe, er wirft nicht eines Tages ein Auge auf Argad!«
Grazia musste sich ein Lachen verkneifen. »Nein, Meya, das ist wohl nicht zu befürchten. Er wäre gern noch mächtiger, aber von deinen Ländern weiß er nichts.«
Zweifelnd rieb sich Madyur das Kinn. »Kennt er dich?«
»Gott bewahre! Nein. Darf ich?« Sie ging zu ihrer Tasche, holte ihr Portemonnaie und öffnete es. »Das ist er.«
Mit spitzen Fingern nahm Madyur das Fünfmarkstück entgegen und hielt es hoch. »Du hast recht – dein Land muss sehr weit weg sein. Jedenfalls ist mir in meinem ganzen Leben noch kein Mann mit einem solchen Bart begegnet. Und auf die Idee, sein eigenes Abbild auf eine Münze zu prägen, muss man erst einmal kommen.«
»So etwas kennt ihr auch nicht, oder?« Mutig geworden, nahm Grazia den zerknüllten Geldschein heraus, glättete ihn und reichte ihn dem König. »Das ist auch Geld.«
»Das ist doch nur ein Stück Papier.«
»Ja, Geld aus Papier. Es ist so wertvoll wie ein Beutel voller Münzen.«
»Ach ja? Es könnte aber wegwehen«, gab er zu bedenken. »Man könnte es zerreißen.«
»Das tut aber niemand. Ein Münzenbeutel ist viel schwerer.«
Er war nicht überzeugt. »Zum Schleppen gibt’s doch Sklaven. Wie viele solcher Papiere brauchte man denn, um einen guten Sklaven zu kaufen?«
»Das weiß ich nicht«, murmelte Grazia und überlegte rasch. Was gab es in dieser Welt, das einen Gegenwert von zehn Mark besaß? »Man könnte … man könnte dafür ein paar Dutzend Bierkrüge kaufen. Schätze ich.«
»So viel? Dafür?« Mit spitzen Fingern hielt er den Schein hoch. »Inars Augen! Da hätte ja selbst ich, der ich wahrlich kein armer Mann bin, Bedenken, so etwas mit mir herumzutragen. Bemaltes Papier! Solch ein Unfug. Außerdem sieht es aus, als hätte es drei Monate in einem Braubottich gelegen.«
»Zeig ihm das«, raunte Anschar in ihr Ohr und drückte ihr das Buch in die Hand. Warum tat er das nicht selbst? Mit einem Seitenblick erkannte sie, dass es ihm gefiel, wie sie dem König ihre Welt erklärte. Als sei er stolz auf sie.
Madyur reckte neugierig den Kopf. Sie reichte ihm das Buch. Er betastete es, schlug es auf und stutzte. »Ist das … Schrift?«
»Ja. Man nennt sie Fraktur. Es ist eine Reiseerzählung. Ein Mann reist durch meine Heimat und erzählt davon.«
»So ähnlich wie fahrende Sänger? Nur dass er alles aufgeschrieben hat?« Vorsichtig blätterte er in den Seiten, drehte das Buch wieder herum und betrachtete es lange. »Ich verstehe. Wir haben auch Bücher, aber das sind im Gegensatz hierzu große Kästen, in die man die Papierrollen steckt. Bei euch muss man alles selber tragen, wie? Deshalb macht ihr die Dinge klein und leicht, die Bücher, das Geld, ja?«
Darüber hatte Grazia noch nie nachgedacht. Dass ein Mann aus einer so andersartigen Kultur eine solche Auffassungsgabe besaß, fand sie geradezu beängstigend.
»Sag etwas in deiner Sprache«, forderte er sie auf.
»Gern.« Grazia räusperte sich und sagte ihr Lieblingsgedicht auf. Madyur hörte mit wachsender Verblüffung zu.
»So etwas habe ich wirklich in meinem ganzen Leben nicht gehört. Was hast du da erzählt?«
»Die Geschichte von einem Mann, der einen Obstbaum pflanzt. Birnen .«
»Bir-nen«, wiederholte er langsam das fremde Wort. »Gibt es bei uns Birnen? Was meinst du, Anschar? Von welchem Obst könnte die Rede sein?«
»In diesem Gedicht geht es doch gar nicht um Obst«, warf Anschar ein. »Sie hat’s mir beigebracht. Es geht um …«
Das letzte Wort verstand sie nicht, doch sein Griff an den Schritt war eindeutig. Der König fing schallend an zu lachen. »Ach so! Das gefällt mir. Sie soll es mir auch beibringen. Nein, sie soll es übersetzen. Das kann sie doch, oder?«
Die Röte schoss ihr ins Gesicht. Sollte Anschar das Gedicht dermaßen fehlinterpretiert haben? Rasch ging sie es noch einmal in Gedanken durch, doch sie konnte die Stelle, an der seine Fantasie falsch abgebogen war, nicht finden.
»Ja, das kann sie. Vor ein paar
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