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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Mann, so kann er nichts sehen.«
    Das beantwortete nicht seine Frage, aber er gab sich damit zufrieden. Verloren stand sie da, denn er versank wieder ins Grübeln. Was hatte er nur? Es schmerzte sie, ihn so zu sehen. Nach einer Weile stemmte er sich hoch, streifte den schmutzstarrenden Mantel ab und ging an ihr vorbei.
    »Bring mir etwas zum Anziehen, ganz hinten aus der Truhe«, sagte er. »Ich bade jetzt. Mir ist nicht danach, erst frisches Wasser holen zu lassen. So dreckig hast du’s ja hoffentlich nicht gemacht.«
    Sie zuckte zusammen, als er an ihrem Ärmel zupfte. Als sie sich umdrehte, lächelte er.
    »Sieht unbequem aus.« Seine Hand ruhte in ihrer Armbeuge. »Aber nicht uninteressant.«
    Er verschwand im Bad. Kurz darauf hörte sie das Wasser spritzen und ihn wohlig aufstöhnen. Ein Sklave erschien, verneigte sich vor ihr, wobei er es vermied, sich verwundert über ihr Äußeres zu zeigen, und trug einen bis zum Rand gefüllten Bierkrug ins Bad. Dann verschwand er wieder. Allmählich glaubte Grazia zu verstehen, warum es hier keine Tür gab. Sklaven mussten herein und hinaus, und ständig öffnen wollte man ihnen wohl nicht.
    Sie lief ins Schlafzimmer und fand in der Truhe mehrere Wickelröcke und ärmellose, eng geschnittene Hemden. Fast alles war schwarz, was die Farbe der Zehn war, wie sie inzwischen
wusste. Sie zog ein Hemd heraus und wählte einen Rock, der zur Abwechslung wenigstens goldene Stickereien am Saum aufwies. Mit geschlossenen Augen legte sie die Sachen auf die oberste Stufe der Badekammer. Aber bevor sie sich zurückzog, schaute sie hin, nur für einen winzigen Moment.

    Als sie sich wieder aufrichtete, stieß sie vor Schreck einen leisen Schrei aus. Ein Mann stürmte die Wohnung. Unwillkürlich wich sie zu einem der Terrassenpfeiler zurück.
    »Anschar!«, brüllte er. Abrupt blieb er stehen, als er sie sah. »Wer bist denn du?«
    Grazia wusste nicht, was sie tun sollte. Ein Sklave war das offensichtlich nicht. Am Eingang bemerkte sie einen weiteren Mann, und dieser hatte eine Tätowierung, die Anschars glich. Also ein Mitglied der Kriegerkaste … und auf einmal wusste sie, dass es der Großkönig des Hochlandes war, der so lautstark nach Anschar verlangte. Vor Schreck machte sie einen besonders tiefen Knicks, sodass sie auf ihren blanken Strümpfen beinahe ausglitt. Er schien es nicht zu bemerken. Erleichtert sah sie Anschar aus dem Bad kommen, sauber und rasiert. Er eilte auf den König zu, wobei er den hastig umgelegten Wickelrock schnürte.
    Ehrerbietig verneigte er sich. »Ruhm und Ehre in alle Ewigkeit für dich, Herr.«
    Madyur-Meya nickte. Während sich die beiden Leibwächter mit stummen Blicken begrüßten, wandte er sich Grazia zu. Langsam umrundete er sie; seine Musterung fiel noch unverhohlener als alle bisherigen aus, und sie wappnete sich gegen eine mögliche Berührung. Anschar gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie sich nicht bewegen solle.
    »Du hast den Gott nicht bei dir, wie ich hörte?« Die Frage galt Anschar, wenngleich der König dicht vor Grazia stand
und sich leicht zu ihr neigte, um die Rüschen und Schleifchen ihres Kleides in Augenschein zu nehmen. Sie betete darum, dass er ihres übel riechenden Unterzeugs nicht gewahr wurde. Er selbst verströmte einen erfrischenden Wohlgeruch. Sie fand ihn durchaus anziehend. Groß, breitschultrig, aber schon weit in den Vierzigern. Die ergrauten Haare trug er zu einem kleinen Zopf gebunden. Nichts an seinem Äußeren wies ihn als König aus, doch sein Gehabe war ohne Zweifel das eines Herrschers.
    »Nein«, erwiderte Anschar. »Weder ihn noch den Rest deines Suchtrupps. Ich habe versagt.«
    Madyur nickte langsam. »Deine Offenheit ehrt dich. Ich bin enttäuscht, das weißt du ja. Ich war sicher, dass es dir gelingen würde. Und wenn nicht dir, dann auch sonst keinem.«
    Anschar schwieg. Er sah verbittert aus.
    »Stattdessen bist du mit dieser Frau zurückgekehrt. Soll sie mir als Entschädigung dienen?«
    O Gott, dachte Grazia. Augenblicklich glaubte sie sich einer Ohnmacht nahe.
    »Sie ist hier, weil sie Hilfe braucht, um wieder in ihr Land zurückzukehren«, erwiderte Anschar. »Ich habe ihr versprochen, dass sie freundlich und als Gast aufgenommen wird. Sie ist keine Wüstenfrau.«
    »Das sehe ich.« Der Meya ließ den Blick an ihr hinaufwandern, bis er an ihren Augen hängen blieb. Die Strenge wich mit einem Mal aus seinen Zügen, und er lächelte entwaffnend. »Wie, sagtest du, ist dein

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