Das gläserne Tor
das Tor, um vor den König treten zu dürfen. Anschar sah Scheracheden mit künstlich gelockten Haarsträhnen, ebenso Männer aus dem kalten und am weitesten entfernten Praned,
die sicherlich viele Monate für ihre Reise gebraucht hatten, um ihre Geschäfte mit den Zwillingsstädten Argadye und Heria zu tätigen und dem Meya ihre Aufwartung zu machen. Sie alle steckten die Köpfe zusammen und drehten sich zu ihm um. Selten hatte er erlebt, dass man jemandem erklären musste, was es mit den Zehn und ihrem Zeichen, das sie auf dem Arm trugen, auf sich hatte. Er war stolz, zu der legendären Kriegerkaste zu gehören. Dass er zugleich ein Sklave war, hatte er bislang hingenommen. Jetzt verabscheute er es.
Anschar erinnerte sich noch gut an das Entsetzen, das er empfunden hatte, als Madyur ihn gerufen hatte, um ihm zu sagen, was ihm blühte, sollte der argadische Trupp versagen. Es war das erste Mal gewesen, dass er die Stimme gegen seinen Herrn erhoben hatte. »Warum hast du das getan?«, hatte er ihn angeschrien. »Um mich zu wetten, als ginge es um ein Spiel! Ich könnte da draußen mein Leben verlieren, und jetzt riskierst du zusätzlich noch, dass es deinem Bruder in den Schoß fällt!«
Wie zwei ebenbürtige Männer hatten sie sich gegenübergestanden, und Madyur hatte als Erster den Blick gesenkt.
»Weil Mallayur es mir vorschlug. Er hat mich gereizt, und, ja, bei Inar, ich habe mich hinreißen lassen, weil er andauernd stichelte und so tat, als habe er die besten Männer des ganzen Hochlandes in seinem Trupp versammelt. Aber du wirst den letzten Gott finden. Mallayurs Trupp ist deinem doch unterlegen. Du wirst mich nicht enttäuschen!«
Daraufhin hatte sich Anschar ohne ein Wort abgewandt und war gegangen.
Die Menschen traten zurück und machten ihm eine Gasse frei. Am Tor nickten ihm die Palastwächter respektvoll zu. Er betrat einen Vorplatz, der kaum weniger dicht bevölkert war. Mittlerweile stand die Sonne tief und ließ die blau gefliesten Pfeiler des Palastes glänzen. Die in der Sonne leuchtende
Fassade mit ihren goldenen Reliefs des Götterpaares wäre des Meya würdig gewesen, doch für Anschar war dies der Eingang zu einem Gefängnis. Gleichgültig, was der König von Hersched mit ihm vorhatte, er würde es hassen, hier zu sein. Die Abneigung gegen diesen Ort ließ sich wohl von seiner Miene ablesen, denn jetzt wichen die Menschen eher ängstlich als ehrerbietig vor ihm zurück. Auf der Treppe, die zum Palastportal führte, stand Mallayur, ins Gespräch mit einem Scheracheden versunken. Der Herr von Hersched wirkte, behängt mit Goldschmuck und umweht von der Luft eines aus roten Federn gefertigten Wedels, den ein Sklavenjunge sanft auf und ab schwang, alles andere als fehl am Platz. Seine Größe und die breiten, geschmeidigen Schultern ließen ihn seinem Bruder ähneln.
Er klopfte dem scherachedischen Gesandten auf die Schulter und lächelte. »Es ist alles noch viel zu früh. Wer weiß, wann wir etwas von unseren Suchtrupps hören werden. Und ob überhaupt. Wobei, hätte der des Königs von Scherach den Gott gefunden, würde es ja noch einmal viele Monate in Anspruch nehmen, ihn herzubringen.«
»Unsere Priester sagen, der Gott könne einen Weg durch Welten öffnen. Dann könnte er auch in Windeseile hier sein. Er ist ja gewillt, uns zu helfen.«
»Dazu muss er erst befreit werden, und es ist fraglich, ob wir Menschen dazu in der Lage sind. Wie auch immer, es ist alles mehr als ungewiss. Ehrlich gesagt halte ich diese ganze Sache für unnütz.«
»Unnütz?«, wiederholte der Gesandte sichtlich verblüfft.
»Ja, glaubst du denn wirklich, die Suchtrupps würden weit kommen, bis hin zu jener sagenhaften Oase des letzten Gottes? Von der niemand genau weiß, wo sie ist?« Die Worte erstarben, denn Mallayurs Blick fiel auf Anschar, der am Fuß der Treppe stehen geblieben war. Wieder lächelte er und fuhr
fort: »Eigentlich hatte ich mich an dieser Suche gar nicht beteiligen wollen, aber der Meya verlangte es. Also habe ich sie mir ein bisschen schmackhaft gemacht, indem ich ihm eine Wette anbot, auf die er sich glücklicherweise einließ.«
Und hier ist dein Gewinn, das wolltest du noch sagen, dachte Anschar säuerlich und neigte zum Gruß den Kopf.
»Bitte entschuldige mich«, sagte Mallayur zu seinem Gast und schritt die Stufen hinunter. Dicht über Anschar stehend, senkte er die Stimme. »Willkommen, Anschar. Ich will eine tiefere Verbeugung. Jeder hier soll sehen, dass du einen neuen Herrn
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