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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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hast.«
    Anschar gehorchte. Er konnte vermutlich froh sein, dass Mallayur nicht von ihm verlangte, auf die Knie zu fallen.
    »Gut.« Mit einer leichten Schulterberührung gestattete ihm Mallayur, sich wieder aufzurichten. »Ich erwarte Gehorsam, dann kommen wir miteinander aus. Alles Weitere besprechen wir später.«
    Ein argadischer Palastbote eilte heran, verneigte sich und streckte eine Papierrolle vor. Unwirsch nahm Mallayur sie ihm aus der Hand und entrollte sie. »Was will mein Bruder denn jetzt schon wieder? Ah, ein Bankett zu Ehren eines Gastes. Wie ermüdend.« Er ließ die Rolle zusammenschnappen und funkelte Anschar an. »Es würde mich reizen, dich mitzunehmen. Aber dazu ist es viel zu früh, denn ich weiß ja gar nicht, wie du dich benimmst. Was sagst du ?«
    Beim besten Willen wusste Anschar nicht, was er dazu sagen sollte. Wie sollte er sich schon benehmen, wenn er reglos hinter seinem Herrn stand? Geladene Gäste brachten normalerweise keine eigenen Leibwächter mit, aber es kam durchaus vor und wurde geduldet. Niemand achtete darauf. Ein Leibwächter, der vorher dem Meya gedient hatte, würde jedoch sämtliche Blicke auf sich ziehen.
    »Das mit dem Antworten müssen wir wohl üben«, sagte
Mallayur und lachte. »Oder hat dir mein Bruder etwa noch schnell die Zunge herausschneiden lassen, damit ich mich ärgere?« Er wandte sich an seine Krieger, die hinter Anschar standen. »Bringt ihn in die Sklavenunterkünfte und sagt Egnasch Bescheid. Er soll sich um ihn kümmern.«
    Die beiden Männer nickten und nahmen Anschar in die Mitte. Als sie in den kühlen Schatten des Palastes eintauchten, hatte er das Gefühl, man nehme ihm auf ewig das Sonnenlicht weg.

    Einer der Palastkrieger öffnete eine Tür. »Hier sollst du warten«, erklärte er, nickte respektvoll und machte kehrt. Der zweite folgte ihm, und so fand sich Anschar allein in einem großen Sklavenschlafraum wieder. Der Boden war mit Matratzen und Grasmatten übersät, an deren Kopfenden die wenigen Dinge lagen, welche die Sklaven ihr Eigen nennen durften. In der Mitte stand ein gemauerter Herd, in dem ein offenes Feuer brannte, denn hier, tief unten in den Felsenkellern des Palastes von Heria, war es kalt.
    Anschar nahm eine Öllampe, die an einer Kette von der Decke hing, und besah sich sein neues Zuhause genauer. Überall nur Schlafplätze, dazwischen ein paar Hocker. Ob es in den Schlafunterkünften der argadischen Sklaven genauso trostlos aussah? Als Kind hatte er sie noch kennen gelernt, doch die Erinnerung war verblasst. Na gut, dachte er, zum Schlafen wird’s wohl reichen.
    Er fand einen Stapel unbenutzter Matratzen, davon nahm er sich eine herunter, legte sie in der Nähe des Herdes auf den Boden und setzte sich darauf. Den Eingang ließ er nicht aus den Augen, doch in Gedanken kehrte er nach Argadye zurück. Ihm krampfte sich der Magen zusammen, wenn er nur daran dachte, wie verzweifelt Grazia ihn angesehen hatte. Wie sie auf die Terrasse gelaufen war, damit er nicht mehr
hörte, dass sie weinte. Natürlich hatte er es gehört. Er glaubte es sogar noch gehört zu haben, als er dem Palast längst den Rücken gekehrt hatte.
    Grazia würde in Madyurs Palast wohlversorgt sein, aber sich verloren fühlen. Von jenem Moment an, als seine Leute im Wüstensand gestorben waren, hatte er Mallayur gehört. Er hatte beizeiten entschieden, Henon nicht mitzunehmen, so bitter ihm das aufstieß. Da hatte er noch nicht geahnt, dass es einen zweiten Menschen geben würde, von dem sich zu trennen ihm wehtat.
    Er legte das Buch auf den Schoß. Unterwegs hatte er Grazia einige Schriftzeichen beigebracht, gemalt in den Sand. Die Schrift des Hochlandes war eine komplizierte Ansammlung vielerlei Zeichen und Bilder, die nur gut ausgebildete Schreiber wirklich zu durchschauen wussten. Umso erstaunter war er gewesen, als Grazia erklärt hatte, dass die preußische Schrift mit weniger als dreißig Zeichen auskam, mit denen sich alles wiedergeben ließ. Wobei er das bezweifelte. Für wahrscheinlicher hielt er, dass es auch in ihrer Welt den Schreibern vorbehalten war, umfassend in die Schriftsprache einzutauchen, während allen anderen Menschen ein Grundstock genügte, mit dem sie einfache Gedanken festhielten wie in diesem Buch. Was konnte hier schon Großartiges stehen, wenn es nur eine Landschaftsbeschreibung war?
    Das Alphabet hatte sie ihm beigebracht, und er kannte auch ein paar Wörter und einfache Sätze in ihrer Sprache. Ihr Talent fehlte ihm indes; er

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