Das gläserne Tor
würde sich wohl nie in dieser spuckenden Sprache verständigen können. Wozu auch, der einzige Mensch, der sie sprach, war sie, und sie war wieder aus seinem Leben verschwunden.
Und doch, nun da sie fort war und er nur noch dieses Buch hatte, wünschte er sich, er könnte es lesen. Er blätterte darin
herum. Hier und da stieß er auf ein Wort, das er verstand. Insel. Musik. Kaffee. Dahinter verbarg sich eine Welt, die so anders war, dass sie ihm wohl auf ewig verschlossen blieb.
Die Gleichmäßigkeit der Schriftzeichen war erstaunlich. Ein besonderes Verfahren stecke dahinter, hatte Grazia gesagt. Beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, was das sein sollte, aber besonders war es zweifellos. Er fand ja schon die Anordnung der Blätter erstaunlich: auf einer Seite zusammengefügt, sodass man sie bequem in der richtigen Reihenfolge lesen konnte und keines Blattes verlustig ging.
Etwas steckte in der ledernen Umhüllung, ein weiteres, loses Blatt. Im ersten Moment dachte er, etwas beschädigt zu haben, aber dann sah er, dass es sich von den anderen unterschied. Er zog es heraus. Es war kleiner, dick und fest, und es zeigte keine Zeichen, sondern ein Bild. Darauf waren vier Menschen zu sehen: ein in königlicher Haltung sitzender Mann, um sich geschart zwei Frauen und ein Junge. Anschar erkannte Grazia sofort, obwohl sie steif wie eine Puppe wirkte. Von den Flecken, die sie Sommersprossen nannte, war nichts zu sehen. Ihre Hand lag auf der Schulter des Jungen, während sie Anschar anstarrte. Alle starrten ihn an. Vorsichtig berührte er die glatte Oberfläche. Wie mochte das Abbild dieser Menschen auf das Papier gekommen sein? Warum fehlte jegliche Farbe? Und warum zeigte es nur ihre Gestalten und nicht das, was sie fühlten? Sie sahen aus, als frören sie innerlich. Und doch glaubte er die Zuneigung zu erahnen, die diese Menschen miteinander verband.
Es muss ihre Familie sein, dachte Anschar. Die Ähnlichkeit der Gesichtszüge war unverkennbar, besonders der Junge war Grazia wie aus dem Gesicht geschnitten, nur seine Haare waren dunkler. Sicherlich hatte Grazia nicht gewusst, dass sich dieses Abbild in der Umhüllung befand. Hätte sie es sonst hergegeben? Anschar steckte es zurück und schob das Buch
unter das Kopfende der Matratze. In diesem Moment ging die Tür auf.
Ein Mann kam herein, einen Peitschengriff in der Hand, um den mehrere Lederschnüre gewickelt waren. »Steh auf«, sagte er, kam näher und deutete auf die Lampe, die Anschar neben sich auf den Boden gestellt hatte. »Und häng die wieder dahin, wo du sie her hast.«
Anschar gehorchte. Dann stand er vor dem Herscheden, der offensichtlich der Sklavenaufseher war. Es war ein kleiner Kerl mit dem wuchtigen Nacken eines Sturhorns. Er legte den Kopf zurück, musterte ihn scharf und sehr ausgiebig. Als sein Blick an der Tätowierung hängen blieb, hob sich fast unmerklich eine Braue.
»Ich wollte es ja erst nicht glauben, als der Herr vorhin sagte, der Eine der Zehn, der ein Sklave ist, würde ihm künftig dienen. Eigentlich kann ich es immer noch nicht glauben, aber da du hier bist, muss es wohl so sein, wie? Wirklich erstaunlich …« Er rieb sich das glatt geschabte Kinn. »Zeig mir deinen Rücken.«
Auch das tat Anschar. Sein Körper spannte sich an, als er hörte, wie der Mann seine Peitsche ausschüttelte. Er rührte sich nicht, als er einen leichten Hieb empfing. Es folgte ein zweiter, härterer.
»Beherrschen kannst du dich jedenfalls.« Die Stimme des Aufsehers zitterte kaum merklich, als sei er sich nicht sicher gewesen, ob er das hätte wagen dürfen. Anschar drehte sich um und bedachte ihn mit einem kalten Blick.
»Du kannst mich Egnasch nennen. Meinen Befehlen ist Folge zu leisten – über mir steht nur der Herr von Hersched. Hast du das verstanden?«
Das bestätigte Anschar mit einem knurrenden Laut.
Egnasch schürzte die Lippen. »Du könntest zwar respektvoller antworten, aber für den Anfang will ich das gelten
lassen. Ist ja sicher ungewohnt für dich. Was hast du da unter der Matratze versteckt?«
»Das Einzige, das mitzunehmen dein Herr mir gestattete.«
»Zeig es mir.«
Anschar rührte sich nicht. Der Aufseher ging in einem Bogen um ihn herum, bückte sich und tastete unter der Matratze herum, nicht ohne ihn aus den Augen lassen. Dann hatte er das Buch gefunden.
»Seltsames Ding«, murmelte er und richtete sich auf. »Was soll das sein?«
»Ein Buch.«
»Willst du mich für dumm verkaufen? Ich weiß, wie
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