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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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winzige steinzeitliche Waffen. Dazu fand sie ein Messer zum Anspitzen und mehrere Specksteine, aus denen man grob die Konturen von Fischen und Vögeln herausgeschliffen hatte. Wozu sie dienten, erkannte sie, als sie einen Bogen aus der Rolle zog und etwas benötigte, um die Ecken zu beschweren.
    Das Papier war am erstaunlichsten, verhältnismäßig glatt und von einem zarten Grün. Als Anschar erzählt hatte, dass es hier Papier gab, hatte sie sich natürlich etwas wie Papyrus vorgestellt, aber das hier hatte wenig damit zu tun. Wie es wohl hergestellt wurde? Es schien nicht einmal besonders kostbar zu sein, denn die Rolle enthielt gleich ein ganzes Dutzend Blätter.
    Sie nahm das Wandbild mit dem Schamindar in sich auf und begann es abzuzeichnen. Bald hatte sie den wolfsähnlichen Kopf, den dicken sehnigen Hals, der eher an den eines
Pferdes erinnerte, und den löwengleichen Körper zu Papier gebracht. Die Pfoten liefen in drei echsenartigen Krallen aus. Das Seltsamste an diesem Tier war jedoch, dass es drei quastenbesetzte Schwänze besaß. Einen schleifte es hinter sich her, während sich die anderen drohend in die Höhe reckten. Ihre Zeichenkünste waren nicht schlecht, und die Kopie eines stilisierten Wandfreskos anzufertigen, fiel ihr nicht schwer. Was ihr Vater wohl dazu sagen würde, wenn er das Bild sähe? Und Friedrich? Ihr Blick fiel auf den Ring an ihrer Linken. Die ganze Zeit über hatte sie kaum noch an ihren Verlobten gedacht.
    Sie nahm sich vor, alles Mögliche zu zeichnen, damit sie einen Beweis hatte, hier gewesen zu sein. Als sie den Schamindar vollendet hatte, versuchte sie sich an anderen Tieren, die sie jedoch aus dem Gedächtnis zeichnen musste. Danach legte sie Anschars Schwert auf den Tisch und zeichnete es ab. Vielleicht würde sie eines Tages sogar ein Buch über diese Welt schreiben?
    Wohl kaum, dachte sie. Wenn alles gut ging, würde sie hoffentlich bald herausfinden, wie sie heimkehren konnte.
    Den Sklaven, der im Eingang stand, nahm sie erst wahr, als er sich bewegte. Wie lange mochte er schon hier sein? Es war ein alter Mann mit faltigem, eingefallenem Brustkorb, dem das türkis gesäumte Sklaventuch um die Hüften schlotterte. Sein Blick war offener, als es bei den anderen Sklaven üblich war, und dennoch ängstlich.
    »Ist … ist er schon weg?«
    Grazia stand auf und ging auf ihn zu. Hastig verneigte er sich. »Du bist Henon?«, fragte sie.
    »Ja.«
    »Bitte komm doch herein. Ja, Anschar ist weg. Man hat ihn abgeholt und nach Heria gebracht.«
    »Also ist es wahr. Mein armer Junge – in Heria! Ihr Götter!
« Still in sich versunken stand er da und versuchte wohl, ihre Worte zu verdauen. Es gelang ihm nicht. Er fing an zu zucken. Sie hatte Anschars Tränenausbrüche befremdlich gefunden, doch einen alten Mann weinen zu sehen, schnitt ihr ins Herz. Sie ging zu ihm und berührte ihn am Arm. Er zuckte zusammen, wischte sich fahrig über den fast kahlen Kopf und fasste sich.
    »Darf ich fragen, wie dein Name ist, Herrin?«
    »Grazia.«
    Erst jetzt schien er ihrer richtig gewahr zu werden. Sein Blick blieb an ihrem Kleid hängen. »Vorhin habe ich jemanden sagen hören, du wärst von Anschar gefunden worden, draußen in der schrecklichen Wüste. Du kommst von sehr weit her, ja?«
    »O ja.«
    »Dann hast du gar nichts bei dir? Es gibt doch so viel, das du benötigst. Kleider und all das.«
    »Ich weiß nicht? Ich will nach Hause, aber ob das so schnell geschieht, wie ich es mir erhoffe, nun ja …« Sie deutete auf den Tisch mit der Zeichnung. »Ein wenig Beschäftigung, bis es so weit ist, habe ich jedenfalls schon gefunden.«
    Henon ging zum Tisch. Ehrfürchtig berührte er das Schwert seines Herrn und betrachtete die Zeichnungen. »Hat er dir gesagt, dass er das Wandbild mit dem Schamindar am liebsten mochte?«
    »Nein, das wusste ich nicht.«
    »Als er ging, sagte er, er wolle es bei seiner Rückkehr neu haben. Das alte war verblasst. Wegen der Sonne.« Er wies zur Terrasse. »Nachmittags ist sie immer …« Seine Stimme erstarb, die Worte gingen in ein Aufschluchzen über. Er wandte sich ihr zu, presste eine Hand auf sein Herz und wankte. Das Blut war aus seinem Gesicht gewichen.
    »Darf ich … mich hinlegen?«, murmelte er. Betrachtete
er sie etwa als seine neue Herrin? Um ihm das auszureden, fehlte die Zeit. Sie eilte zu ihm und fasste unter seine Achsel. Es schien tatsächlich nicht viel zu fehlen, und er würde angesichts der Schreckensnachricht zusammenbrechen. Sie führte ihn

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