Das gläserne Tor
begriffsstutzig. Du bist ein Krieger. Und ein Krieger tötet. Du bist auch ein Sklave. Und ein Sklave gehorcht. Wenn ich also einem Krieger, der gleichzeitig ein Sklave ist, befehle, jemanden zu töten, dann ist das die Begründung. Hast du jetzt verstanden?«
»Ja«, antwortete Anschar zähneknirschend. »Du willst meine Zuverlässigkeit prüfen.«
Mallayur lächelte. »Ach wirklich? Sind wir also endlich dahintergekommen. Anschar, der große Krieger mit dem kleinen Hirn!« Er legte dem Jungen den Arm um die Schulter und drückte ihn an sich. »So ein großer Mann und so langsam im Kopf, sei’s drum. So lange er tut, was ich sage. Also bitte, Anschar! Tust du es jetzt?«
Der Junge weinte lautlos an seinen Herrn geschmiegt und ließ den Kopf hängen. Seine Blase entleerte sich. Mallayur tat so, als bemerke er es nicht.
»Nun?«
»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, antwortete Anschar. »Ich schwöre dir, dass ich nie die Hand gegen dich erheben werde. Das ist es doch, worauf es dir ankommt.«
»Ein Sklave, der schwört«, sagte Mallayur verblüfft. »Na gut, belassen wir es dabei für heute. Geh schon und mach dich sauber«, er gab dem Jungen einen leichten Stoß, sodass dieser den Wedel in seine Wasserlache fallen ließ und hinausrannte. »Das muss ja nicht gleich am ersten Tag gelingen«, wandte er sich wieder an Anschar, hob die Stange auf und schüttelte die Tropfen herunter. »Vielleicht eignest du dich ja auch als Schirmträger, wenn du plötzlich meinst, entdecken zu müssen, dass du nicht mehr töten kannst?«
Zu all dem konnte Anschar nur schweigen. Er sehnte sich danach, die Faust im Gesicht seines Herrn zu versenken, aber so etwas durfte er als Sklave nicht einmal denken.
Mallayur ließ den Wedel wieder fallen. »Na schön, lassen
wir das. Aber dass du dich soeben als störrisch erwiesen hast, da stimmst du mir doch zu, oder?«
»Ja, Herr.«
»Gut. Ganz ohne Strafe bleibt das nicht. Gib mir das Ding.« Auffordernd streckte er die Hand aus. Anschar legte das Buch hinein. Nur schwer konnte er die Finger davon lösen, doch er zwang sich. Mallayur betrachtete es noch einmal ohne großes Interesse, ging zum Herdfeuer und ließ es hineinfallen.
Grazia versuchte ihre Betäubung abzuschütteln. Es hatte keinen Sinn, ewig auf der Terrasse sitzen zu bleiben. Sie benetzte ihre Hände und wusch sich die tränenverklebten Augen. Dann kehrte sie in die Wohnung zurück und versuchte sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, dass ihr diese Räume zur Verfügung standen. Sie hatte mit einer netten Gästekammer gerechnet, aber nicht mit dieser von Wandfresken übersäten Zimmerflucht. Was mochte man Anschar fortan zugestehen? Und würde er wirklich nicht mehr hierher zurückkehren? Der Gedanke ließ die Farben verblassen und die gemalten Tiere und Pflanzen hässlich werden. Grazia durchmaß die Wohnung von einem Ende zum anderen. Es war nach wie vor ein Traum: Sie bewegte sich in einer Kultur, die sie glauben machten konnte, sie sei in die Bronzezeit gereist. Als Kind hatte sie sich so etwas immer gewünscht. Nun war es geschehen, doch einen erfüllten Traum stellte sie sich anders vor. Sie hatte Heimweh. Ihre Familie wusste nichts von ihrem Schicksal. Und sie selbst wusste nichts von Anschars.
Sie blieb vor einer Wand stehen, die eine Jagdszene zeigte. Ein Fabeltier schlich sich durch einen Wald und stellte ein Reh. Das Wesen erinnerte sie an das Bild, das Anschar in der Wüstenhöhle gezeichnet hatte. Der Schamindar, die Große
Bestie, das Tier aus den argadischen Sagen. Wenn sie die Nase dicht an die Wand hielt, konnte sie noch den Gips riechen. Hatte Anschar das Bild erst vor kurzem auftragen lassen? Sie schüttelte den Kopf; sie konnte nicht andauernd an ihn denken, das machte sie noch verrückt. Also ging sie hinaus und bat einen der Sklaven herbei.
»Es gibt hier Papier, das weiß ich«, fiel sie ungeduldig mit der Tür ins Haus. »Aber womit zeichnet man? Kannst du mir alles bringen, was man dazu braucht?«
»Natürlich«, sagte der Mann, neigte den Kopf und lief sofort los. Bald darauf kehrte er mit einer Papierrolle und einem Kästchen zurück. Grazia nahm die Sachen dankend in Empfang und trat in den Raum, den sie bei sich den Salon nannte. Dort legte sie sie auf den Tisch und rückte diesen an die Bank vor dem Fenster. Dann setzte sie sich und öffnete das Kästchen. Was sie herausholte, waren kurze Stifte aus Schilfrohr, in deren Enden angespitzte Graphitklumpen steckten. Sie sahen aus wie
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