Das gläserne Tor
entfuhr es Grazia.
Fidya bedeutete den Frauen, die Kästen auf den Tisch zu stellen und zu öffnen. »Ja, starke Schultern hat er, die lässt man ungern los, könnte ich mir denken. Wenn man ihn ansieht, möchte man wohl vergessen, dass er ein Sklave ist. Magst du goldenen Gesichtspuder?«
Um Himmels willen, dachte Grazia. »Nein, etwas Unauffälliges. Ich will ja nur meine Gesichtsflecken abdecken.«
»Ich finde sie interessant.« Fidya öffnete ein winziges bauchiges Tongefäß und tauchte etwas hinein, das wie ein
Büschel zarter Pflanzenfasern aussah. Damit betupfte sie sorgfältig Grazias Gesicht. »Möchtest du auf deine Lippen ein helles Grün?«
»Oh, bitte nicht! Gibt es hier wirklich Frauen, die sich die Lippen grün anmalen?«
»Einige schon. Es würde wirklich wunderbar zu deinen roten Haaren und den grünen Augen passen.«
Grazia bedankte sich und holte aus ihrer Tasche die Stiefeletten. »Würdest du mir helfen, sie anzuziehen? Meine Bastschuhe sind viel zu schäbig für ein Bankett.«
» Das sollen Schuhe sein? Ihr Götter!« Fidya nahm die Stiefeletten entgegen und betrachtete sie von allen Seiten. In ihren Augen mussten sie wie Folterwerkzeuge erscheinen. Grazia erklärte ihr, was sie tun musste, und tatsächlich ging die Argadin in die Knie und half ihr hinein. Das Schnüren klappte leidlich beim vierten oder fünften Versuch.
»So, ich bin jetzt bereit.« Grazia machte einige unsichere Schritte. »Au! Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen.«
»Deine Schuhe machen Krach«, sagte Fidya erheitert und winkte die beiden Frauen fort. »Die Sachen gehören dir. Für deine Füße lasse ich dir dann auch etwas Passendes bringen.«
»Danke.« So leise wie möglich ging Grazia zum Schlafzimmer und warf einen Blick hinein. Henon war von ihren Schritten und dem Geschnatter nicht aufgewacht. Er schnarchte leise.
8
E s ging über Treppen, hinauf und hinunter. Immer wieder drehte Fidya sich um, offenbar besorgt darüber, ob Grazia in ihrem langen Kleid und den merkwürdigen Schuhen nicht stolperte.
»Warum ist der Palast so verwinkelt?«, fragte Grazia.
»Er ist über Jahrhunderte gewachsen«, erklärte Fidya. »Aber der eigentliche Grund dürfte der sein, dass er auf felsigem Untergrund steht, und der ist alles andere als eben.« Sie eilte auf ein Portal zu. Sklaven huschten vorbei, trugen mit Speisen beladene Tabletts heran, von denen ein fremdartiger Duft aufstieg. Als sich die Nebenfrau des Königs näherte, blieben sie sofort stehen und machten ihr Platz. »Komm«, Fidya winkte Grazia heran und zog sie mit sich in den Raum. »Du musst dich nicht fürchten. Den Meya kennst du ja schon.«
Ein wenig fürchtete Grazia sich dennoch, als sie das riesige Stufenpodest am anderen Ende der Halle sah. Lange Tafeln standen auf den Stufen, von Männern und Frauen in ähnlich bunter Aufmachung bevölkert. Vier solcher Stufen gab es, auf jeder war die Tafel ein wenig kleiner, bis hin zur obersten, auf der sich gar kein Tisch befand, sondern eine mit Türkisen und Gold verkleidete Kline. Es war in der Tat ein beeindruckendes Bild, wie sich der König in luftiger Höhe auf seiner Liege rekelte und auf die Pyramide seines Hofstaates herabschaute, sanft umweht von den Fächern mehrerer Sklaven. Grazia war sich sicher, dass er sie hier unten gar nicht bemerkte. Aber kaum betrat sie die Halle, verstummten sämtliche Gespräche. Sogar die Sklaven unterbrachen ihre Arbeit. In der plötzlichen
Stille war es ihr, als löse sich mit jedem ihrer Schritte ein Pistolenschuss. Hätte ich doch nur die alten Bastschuhe genommen, dachte sie verzweifelt und versuchte sich irgendwie unauffällig zu machen, als sie Fidya über eine seitliche Treppe bis hinauf zum zweithöchsten Podest folgte. Der König lächelte von seiner Kline herunter, als sie sich verneigte. Hier tat man das mit gerundetem Rücken und legte dabei die Hände auf die Oberschenkel, wie sie beobachtet hatte.
»Wie kommt es, dass dein Rücken so steif ist?«, fragte er. »Das ist mir vorhin schon aufgefallen. Liegt das an irgendeiner Krankheit? Du siehst ohnehin nicht gesund aus.«
Grazia errötete. »Ich trage etwas unter meinem Kleid, das meinen Körper festigt.«
»Wieso? Würdest du ansonsten in dich zusammenfallen?«
»Nein. Das macht man bei uns so.«
»Ohne Grund?«
»Ich bitte um Verzeihung, Meya, aber ein Mann würde bei uns niemals eine Frau darüber ausfragen. Es ist mir unangenehm.«
Er lachte. »Na gut. Ich verstehe sowieso kein Wort.
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