Das gläserne Tor
Hinsetzen kannst du dich aber, oder? Komm her, Gelbköpfchen.«
Für einen Moment glaubte Grazia, er habe sie gemeint, doch es war Fidya, die zu ihm hinaufstieg und sich hinter ihn auf die Kline legte. Sie griff nach seinem goldenen, mit Türkisen besetzten Stirnband und drehte seinen Kopf nach hinten, um ihn zu küssen. Wohlig knurrte er. Grazia konnte kaum den Blick von ihren Mündern losreißen. Beide streckten die Zungen heraus, um sich gegenseitig abzuschlecken. Es sah abstoßend aus. Und irgendwie auch nicht.
Die Tischgespräche waren verstummt, doch nicht wegen des Geschehens dort oben. Eine Frau mit weißem Federkopfputz stand auf und streckte ihr eine Hand entgegen.
»Ich bin Sildyu, die erste Gemahlin des Meya«, sagte sie. »Komm zu mir.«
Es gab keine Stühle, stattdessen aus dem Felsen gehauene Bänke. Kissen lagen darauf. Grazia setzte sich. Die Frage, ob sich die Gattin des Königs an dem Poussierspielchen über ihnen störte, hatte sie heruntergeschluckt. Sofort schoben ihr die fünf Frauen und Männer, die hier oben saßen, verschiedene Schüsseln und Platten zu. Der Gedanke, hier unter den Blicken von mehr als fünfzig Gästen und einem Dutzend Sklaven essen zu müssen, schnürte Grazia die Kehle zu. Der Duft der Speisen hatte ihren Magen knurren lassen, jetzt war der Hunger wie weggeweht. Es zeigte sich, dass man ihr ohnehin keine Zeit ließ. Die Tischkonversation dieser Leute war alles andere als zurückhaltend, und so wurde sie mit Fragen regelrecht bestürmt. Woher sie kam, wie es sie in die Wüste und dann nach Argad verschlagen habe. Bereitwillig erzählte sie, was sie von jenem Moment an erlebt hatte, als sie in Tuhrods Zelt aufgewacht war. Alles andere – der Sturz in die Havel, ihre Wasserzauberei – ließ sie unerwähnt.
Doch die Fragen prasselten nur so auf sie hernieder.
»Du musst doch wissen, wie du dorthin gekommen bist?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wie kann das sein?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und wie kommst du wieder zurück?«
»Ich weiß es nicht!«
»Die Edlen von Argad sind Plappermäuler«, sagte ein Mann, der soeben heraufgestiegen war. Sogleich verstummten die Gespräche. Er neigte den Kopf vor dem Meya. Die Ähnlichkeit war unverkennbar – es musste sich um Mallayur handeln, den Bruder. Er sah ein paar Jahre jünger aus, sein Haar war weniger von grauen Strähnen durchzogen. Der
auffälligste Unterschied war gewiss der fingerlange und mit goldenen Perlchen verzierte Kinnbart. Wie ein Ziegenbock sieht er damit aus, dachte Grazia.
»Wie geht es Anschar?«, fragte Madyur von oben herab. Sie hielt den Atem an und lauschte.
»Gut, wie auch sonst? Man merkt ihm an, dass du ihn an der langen Leine hast laufen lassen. Das stört mich ein wenig an ihm.«
»Ich bin sicher, du bekommst das in den Griff.«
»Oh, ganz sicher. Aber wollen wir uns wirklich über Sklaven unterhalten?«
»Er ist nicht irgendein Sklave. Andernfalls hätte ich ihn wohl kaum mit der Aufgabe betraut, den letzten Gott zu finden.«
»Nun, er hat versagt. Vielleicht war es ein Fehler, einen Sklaven loszuschicken, ob er nun einer der Zehn ist oder nicht.«
Madyur-Meya grunzte und zog es vor, sich wieder Fidya zu widmen. Mallayur lächelte Grazia zu, neigte sich vor und ergriff ihre Hand. Wie von selbst hob sie sie, damit er ihr einen Handkuss geben konnte, und riss sie zurück, als ihr einfiel, dass man das hier ja nicht kannte – und sie von diesem Mann keinen wollte.
Er lachte. »Habe ich dich verwirrt? Ich hoffe nicht.«
Er setzte sich auf den Platz, den ein anderer bereitwillig räumte, und ordnete seinen Mantel. Wie fast alle Männer trug er ansonsten nur einen knielangen Rock. Der seidige und weit geschnittene Mantel sorgte für einen Einblick auf seinen wohlgeformten Oberkörper. Sogar eine geschminkte Brustwarze war zu sehen. »Sag, ist es bei den Wüstenmenschen wirklich so schrecklich? Sie knien sich beim Essen hin, heißt es. Wie Hunde, die aus Näpfen fressen.«
»Das stimmt nicht. Sie sitzen auf dem Boden. Das heißt,
auf Kissen. Es geht eigentlich ganz gesittet zu.« Grazia hatte sagen wollen, dass es in Tuhrods Zelt gemütlicher gewesen war als an dieser repräsentativen Tafel, aber damit hätte sie die Menschen hier gewiss beleidigt.
Mallayur aber gab sich mit ihrer Antwort keinesfalls zufrieden. »Ihre Bärte wuchern bis zum Boden, und es hausen Tiere darin. Stimmt das denn?«
Eine Frau quietsche vor Ekel auf und schüttelte sich. Wahrscheinlich meinte er Flöhe, aber da
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