Das gläserne Tor
ins Schlafzimmer, wo er sich steif machte.
»Nicht ins Bett«, protestierte der alte Sklave. »Ich schlafe immer neben der Eingangstür auf einer Matte.«
Grazia ließ sich nicht beirren und half ihm auf die Matratze. Er war blass geworden und zitterte. Schweißtropfen sammelten sich in den Furchen seines Gesichts. Es war doch kein Herzanfall? Sie zog eines der Bettlaken heran, machte es feucht und tupfte ihm den Schweiß von der Stirn. Er war viel zu benommen, um sich darüber zu wundern, wo das Wasser herkam.
»Mein armer Junge«, murmelte er. Wie es schien, festigte sich sein Zustand wieder. Erleichtert atmete sie auf, legte das Laken beiseite und richtete das Kissen in seinem Nacken, damit er nicht zu flach lag.
»Bist du sein Vater? Er hat nie von seinen Eltern gesprochen.«
»Sein Vater? Ich?« Sichtlich verblüfft hob er den Blick, doch nicht weiter als bis zu ihrem Hals. Anschar war bisher der einzige Sklave, von dem Grazia bemerkt hatte, dass er den Menschen in die Augen sah. »Nein.«
»Ist dir übel?«
»Ein wenig.«
»Dann solltest du etwas essen. Warte. Nicht aufstehen, ja?« Sie eilte ins Wohnzimmer, wo sie auf einer der gemauerten Bänke Tontöpfe mit Fladenbrot und getrockneten Früchten hatte stehen sehen. Sie nahm ein Stück Brot, dazu einen Weinkrug und einen kupfernen Becher. Zurück im Schlafzimmer, merkte sie, dass Henon eingeschlafen war. Leise stellte sie das Essen auf einem Hocker ab und rückte ihn ans Bett. Jetzt im
Schlaf sah der alte Mann entspannt aus. Sie berührte seine erhitzte Hand und kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Eine Frau steckte die Nase herein. Ihre Augen wurden rund, als sie Grazia erblickte. Ihr Mund stand offen, während sie sie musterte. »Gra-zia?«, fragte sie, den Namen lang und vorsichtig auf der Zunge rollend.
»Ja.«
»Ich bin Fidya.« Sie schwebte ihr entgegen und streckte beide Hände aus. Grazia griff zu, fast ohne es wahrzunehmen. Viel zu erschrocken war sie von dem Anblick, den diese Frau bot. Der Stoff ihres schmal geschnittenen Kleides war so dünn, dass sich alles deutlich darunter abzeichnete. Und das war der nackte Körper. Unterwäsche war nicht zu sehen, womöglich kannte man das hier gar nicht. Das Kleid bedeckte die Beine nur bis zu den Knien; am Saum angenäht war ein durchsichtiger Stoff, der den Rest bis zu den Knöcheln umschmeichelte und vorne aufsprang. Sie leuchtete in Türkis und Gelb, und auf ihrem Kopf saß eine Kappe aus gelben Federn. Wie ein Kanarienvogel.
Ihr wurde bewusst, dass die andere nicht weniger befremdet war. »Welch ein ungewöhnliches Kleid«, sagte Fidya. »Von deinem Haar ganz zu schweigen. So schön gelockt, und dann diese Farbe! Du bist so hübsch.«
»Danke.«
»Nur das da«, Fidya tippte sich an die Wange. »Was ist das?«
»Sonnenflecken, nichts Ernstes. Das haben in meinem Land viele Frauen. Ich bin nicht krank.«
Fidya kicherte. »Das klingt, als hättest du das schon oft erklären müssen.«
»O ja.« Grazia rollte die Augen.
»Und das wirst du gleich wieder«, erklärte die Argadin. »Ich soll dich zu dem Bankett holen, das der König für dich gibt. Ich bin eine seiner Nebenfrauen.«
Grazia zupfte an ihrem Rock. »Kann ich denn so gehen?«
»Es sieht entzückend aus. Ein bisschen unbequem vielleicht. So viel Stoff! Ich hoffe, dir ist darin nicht zu warm. Wenn du magst, lasse ich eine Federnhaube für dich holen. Obwohl es eigentlich eine Schande wäre, diese Haare zu bedecken. Und zu deinem Kleid passt es ja auch nicht.«
Die Vorstellung, so eine Kappe zu tragen, erheiterte Grazia. Sie wusste nicht, ob sie Fidyas bunte Garderobe faszinierend oder albern finden sollte. In jedem Falle sündhaft. Wenn sie genau hinsah, was sie eher zu vermeiden suchte, konnte sie sogar erkennen, dass Fidyas Brustwarzen geschminkt waren. Fast nackte Frauen und königliche Vielehe! Das hier war eine gottlose Welt.
»Ich hätte gern etwas fürs Gesicht, wenn das möglich ist«, sagte sie und versuchte mit Worten und Gesten zu erklären, was sie meinte. Wobei sie beim Anblick von Fidyas gelben Augenbrauen und den ebenso gelben Wangen bezweifelte, dass es klug war, hier um Schminke zu bitten.
»Ah, Gesichtspuder! Natürlich.« Fidya wandte sich zu zwei Frauen um, die am Eingang mit Kästen auf den Armen warteten, und winkte sie herbei. »Ich habe dir einiges mitgebracht. Anschar hatte gesagt, dass du nur das besitzt, was du am Leib trägst. Du kommst dir sicher furchtbar verloren vor.«
»Besonders seit er fort ist«,
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