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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Grazia das hiesige Wort dafür nicht kannte, hob sie nur die Achseln.
    »Ich habe keine Tiere gesehen. Die Bärte reichen höchstens bis zur Brust, und ich vermute, die tragen sie so lang, weil sie vor dem allgegenwärtigen Sand schützen.«
    »Haha, wenigstens das mit dem Sand stimmt!«, rief Mallayur triumphierend. »Damit waschen sie sich.«
    Dagegen konnte Grazia nichts einwenden. Gewaschen hatte sie sich in dieser Zeit nicht oft und das auch nur heimlich. »Wasser ist dort kostbar.«
    »Mag sein.« Verächtlich verzog er einen Mundwinkel. »Du hast jedenfalls viel Verständnis für dieses … Volk.«
    »Sie haben mir ihre Gastfreundschaft gewährt!«, erwiderte sie heftiger als beabsichtigt. Sildyu berührte sanft ihre Hand.
    »Lasst uns nicht unter den Augen des Meya über Wüstenmenschen streiten«, mahnte die Königsgemahlin. »Dir werfen wir sowieso nichts vor. Du musstest dort überleben. Nun iss aber, du siehst kränklich aus. Viel zu blass.«
    Wie gut, dass ich Puder bekommen habe, um meine Sommersprossen einzudämmen, dachte Grazia und biss mit spitzen Zähnen in einen winzigen gebratenen Vogel, den man ihr auf die Schale gelegt hatte. Es kostete sie Überwindung, etwas zu probieren, das wie ein Singvogel aussah. Das Fleisch schmeckte nach Honig, Zimt und etwas anderem, das
es wahrscheinlich nur hier gab. Derweil beobachtete sie einen Vogel mit blauem und rotem Federkleid, der über den Anwesenden kreiste, als überlege er, ob er es wagen könne, sich auf den Tischen niederzulassen und um Futter zu betteln. Die Halle war nicht überdacht. Eine Seitenwand bestand aus unbehauenem Felsgestein, die anderen waren glatt verputzt und mit Fresken versehen, noch viel aufwendiger und farbenprächtiger als die in Anschars Wohnung. Auch hier waren Meeresszenen zu sehen; Blau und Türkis dominierten, dazu Rot und Gelb. Es schien, als sehne sich dieses Volk nach dem unbekannten Meer.
    Über sich hörte sie Gekicher. Galt das etwa ihr? Sie drehte sich um. Nein, der Meya war mit dem Kanarienvogel beschäftigt. Es sah sogar aus, als ginge er Fidya an die Brust. Vor dem ganzen Hofstaat! Grazia warf einen vorsichtigen Blick zu Sildyu, doch die schien das nicht weiter zu kümmern. Aus Anschars Erzählungen wusste Grazia, dass der König über einen Harem verfügte, ganz wie ein Pharao, allerdings hatte sie nicht erwartet, dass diese Tatsache derart zur Schau gestellt wurde. Sie errötete, als sie daran dachte, was ihre Mutter sagen würde, wüsste sie, dass ihre Tochter inmitten eines Harems saß. Nichts würde sie sagen, dachte sie. Sie würde mir eine Ohrfeige geben und mich wortlos hinauszerren.
    Sie neigte sich Sildyu zu. »Verzeih, aber wäre es unhöflich, wenn ich schon gehe? Ich … äh … mir schwirrt der Kopf von dem Lärm.«
    »Sicher nicht, obwohl es schade ist. Es gibt so viele, die dich sehen wollen, und gute Geschichten mögen wir alle. Aber du hast ja gar nichts getrunken! Schmeckt dir der Wein nicht?«
    Grazia zuckte zusammen, als sie den bis zum Rand gefüllten Kelch sah. Sie hatte getrunken, ja, doch jetzt befand sich Wasser in ihrem Kelch. Rasch deckte sie ihn mit der Hand ab.
Seit sie in Argad war, hatte sie kaum noch an ihre Fähigkeit gedacht. Zu viel war auf sie eingestürmt, Erstaunliches und Schlimmes. Sie trank den Kelch leer und schob ihn weit von sich, um ihn nicht versehentlich ein zweites Mal zu füllen.
    »Da speisen sie dich mit Wasser ab«, sagte Mallayur spöttisch. Seine Augen waren schmal geworden. Ihr schauderte es unter diesem Blick. Er winkte einen Sklaven herauf und bestellte Wein. Kurz darauf brachte der Sklave einen schmalen, aber sicherlich fast einen Meter langen Tonkrug und öffnete ihn.
    »Das ist Wein von den Hängen des Hyregor«, erklärte Mallayur. »Das ist ein Gebirgszug im Osten. Man kann seine Ausläufer am Horizont sehen.«
    »Ja, die habe ich gesehen«, murmelte Grazia. Sie probierte den Wein, er war süß und klar. Es fiel ihr schwer, Mallayur anzusehen, aber sie tat es. »Geht es ihm bei dir wirklich gut?«
    »Wem?«
    »Anschar.«
    »Ach so, Anschar. Ich verstehe ja, dass du dir um ihn Gedanken machst, schließlich wart ihr lange zusammen. Warum sollte es ihm nicht gut gehen?«
    Weil er dich in einem ziemlich schlechten Licht darstellte, dachte sie. »Ist es möglich, ihn zu besuchen?«
    Er widmete sich seinem eigenen Kelch und trank stirnrunzelnd. Dann fuhr er nachdenklich mit dem Daumen über den goldenen Rand. »An sich schon. Aber sinnvoll ist das nicht. Er ist

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