Das gläserne Tor
es vielleicht besser gewesen wäre, sich bei Henon zu erkundigen, was sie eigentlich hertrug. Oder einfach hineinzuschauen. Sie neigte sich ein Stück zur Seite, um am Deckel vorbei einen Blick ins Innere zu erhaschen. Was Egnasch mit spitzen Fingern herausnahm, war eine Feder.
»Na so was! Ist das nicht die Feder eines Königsvogels?«
»Ich weiß nicht, was ein Königsvogel ist.«
»Natürlich ist das eine. Die kann ich Anschar nicht geben. Der König würde mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn er wüsste, dass einer seiner Sklaven eine Königsvogelfeder besitzt.« Er lachte, so sehr erstaunte ihn das. »Allein der Gedanke! Wie ist Anschar dazu gekommen? Hat er sie etwa heimlich vom Mantel des Meya gepflückt?«
Mit äußerster Vorsicht strich er über den Kiel mit seinen zahllosen tanzenden Federästchen und betrachtete sie von allen Seiten. Das tiefblaue Auge, umrahmt von schillerndem Türkis, hellem Rot und Ocker, schien ihn böse anzufunkeln.
Es war eine Pfauenfeder.
Egnasch griff ein zweites Mal in das Kästchen und holte einen goldenen Ohrring heraus. Den fand er weniger interessant, denn er legte ihn auf den Tisch und widmete sich wieder dem Kästchen, doch das schien schon alles gewesen zu sein. Grazia glaubte sich vom Blitz getroffen. Ehe sie es sich versah, hatte sie den Ring an sich genommen.
»He! Was ist denn in dich gefahren?«
Sie schüttelte den Kopf, damit er sie in Ruhe ließ. Ihr Zeit ließ, das, was sie sah, wirklich und wahrhaftig zu begreifen.
Es gab keinen Zweifel. Was sie in der Hand hielt, war ein Reif, dessen Enden zwei geflügelte Fabelwesen zeigten, die einander anstarrten. Ein Kettchen hing daran, um ihn an der Ohrmuschel aufhängen zu können. Sie drehte ihn hin und her, sodass die Flamme der Lampe das Gold aufblitzen ließ. Friedrich tauchte vor ihrem inneren Auge auf, wie er den Kasten – den anderen Kasten – öffnete und das fremdartige Geschmeide präsentierte. Die Halskette. Den Ohrring. Den anderen Ohrring.
10
E s war Grazia unangenehm, vor Mallayur zu treten. Sie hatte gehofft, ihn während ihres Aufenthalts nicht mehr zu Gesicht zu bekommen, denn seine Gegenwart bei dem Bankett hatte sie ausreichend beunruhigt. Er saß auf einem steinernen Thron, umgeben von etlichen fremdartig gekleideten Männern, denen er, wie Egnasch erklärt hatte, Audienz
gewährte. Auch Frauen waren darunter. Grazia bemerkte an einigen Ohren ähnliche Gehänge. Natürlich, gelochte Ohrläppchen waren hier den Sklaven vorbehalten. Ihr wurde noch flauer im Magen, als sie daran dachte, dass sie erst vor wenigen Wochen den Wunsch verspürt hatte, sich Ohrlöcher stechen zu lassen.
Als Mallayur sie sah, flammten seine Augen auf – erfreut, wie ihr schien, aber weshalb, konnte sie sich nicht erklären. Kaum hatte sie die Halle betreten, sprang er auf und stürmte mit wehendem Mantel auf sie zu.
Egnasch, der vor ihr stand, machte einen tiefen Bückling. »Herr, sie verlangte …«
Mallayur schob ihn beiseite und streckte beide Hände aus. »Grazia aus dem fernen Land Preußen. Wie kommt es, dass du mich mit deinem Besuch beehrst?«
Preußen? Woher wusste er das? Als sie davon erzählt hatte, während des Banketts, war er noch nicht da gewesen. Er musste den Namen von Anschar gehört haben. Zögernd reichte sie ihm eine Hand, und er drückte sie sanft.
»Ich möchte mit Anschar sprechen«, sagte sie. »Es ist wichtig.«
Er zuckte zurück und ließ sie los, seine Miene zeigte belustigte Abwehr. »Und ich hatte gehofft, du kämst meinetwegen. Hatten wir nicht darüber gesprochen, warum ich das nicht gutheiße?«
»Es ist mir wirklich wichtig.«
»Hm.« Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und neigte sich vor. Ein feiner Blütenduft stieg ihr in die Nase. Seine sorgsam geschminkten Augen schienen ihre Gedanken bloßlegen zu wollen. Was sollte sie sagen? Sollte sie von dem Schmuck berichten? Nein, mit diesem Mann wollte sie nicht darüber reden.
»Er ist gerade etwas unpässlich«, sagte er.
»Ist er krank?«
»Nein. Nur halsstarrig. Er hat sich eine Strafe eingehandelt – eine verdiente, wohlgemerkt.«
Ihr wurde heiß und kalt vor Furcht. War es nicht das, was Anschar ihm vorgeworfen hatte? Dass er schlecht zu seinen Sklaven war?
»Aber …«
Abwehrend hob er die Hand. »Keine Einwände, junge Frau! Es war damit zu rechnen, dass er gewisse Schwierigkeiten haben würde, sich in die Strenge eines üblichen Sklavendaseins zu schicken. Das gibt sich mit der Zeit, wenn er
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