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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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vernünftig ist. Es ist kein Grund, sich zu sorgen. Was immer du ihm Wichtiges zu sagen hast, sag es mir, ich richte es ihm aus.«
    Das war wirklich das Letzte, was sie wollte. Sie hatte Egnasch erfolgreich bedrängt, sodass er sich irgendwann bereiterklärt hatte, ihren Wunsch seinem Herrn vorzutragen. Wie sie jetzt vorgehen sollte, war ihr unklar. Mallayur schien gänzlich abgeneigt, doch mit einem Mal setzte er wieder sein vermeintlich offenes Lächeln auf.
    »Was ziere ich mich eigentlich so? Natürlich darfst du ihn sehen. Es ist dein Wunsch, und ich möchte dich nicht enttäuschen. Ich bringe dich zu ihm.«
    Sein Sinneswandel machte sie noch misstrauischer. Mit höflicher Geste bedeutete er ihr, ihm zu folgen, und machte sich auf den Weg zurück in die Felsenkatakomben des Palastes. Mallayur schritt so selbstverständlich aus, als seien ihm selbst die düstersten Winkel seines riesigen Palastes vertraut. Auch Egnasch marschierte hinter ihm her, seine Peitsche schleifte über den Boden. Grazia merkte kaum, wie ihre Füße den Fels unter ihr berührten, so unwirklich kam es ihr vor, mit diesen beiden Männern durch die dunklen Gänge zu laufen. Die Sklavenunterkünfte waren jedoch nicht das Ziel;
irgendwann bog Mallayur, der sich eine Fackel hatte geben lassen, in einen anderen Trakt ein, der nicht anders war: aus dem Felsen geschlagen und kalt. Vor einer verschlossenen Tür blieb er stehen und wandte sich zu Grazia um.
    »Erschrick nicht. Es sieht schlimmer aus, als es ist.«
    Die Furcht legte sich um ihren Hals wie eine Schlinge. Er drückte die Tür auf und ging voraus. Abgestandene Luft schlug ihr entgegen, vermischt mit dem Gestank nach Schweiß und Urin. Mallayur entzündete eine Lampe, die von der Decke hing, und gab Egnasch die Fackel. Der verließ auf seinen Wink hin den Raum und schloss die Tür. Das schwankende Licht beleuchtete ein steinernes Becken, dessen Kanten schmierig glitzerten … Tonkrüge an den Wänden … Eine Gestalt, die bäuchlings auf einem Brett lag. Es vergingen lange Sekunden, bis Grazia begriff, dass es Anschar war. Er war an dieses Brett gefesselt, sein Kopf hing über dem Becken. Er rührte sich nicht.
    »Was ist mit ihm? Lebt er überhaupt noch?«, schrie sie auf.
    Fast unmerklich bewegten sich seine Armmuskeln. Wie es schien, versuchte er zu ergründen, wer da gekommen war. Sie wollte auf ihn zulaufen, doch Mallayur hielt sie am Arm fest.
    »Natürlich lebt er. Mir liegt nicht an seinem Tod, sondern an seinem Gehorsam. Den lernt er gerade. Und du solltest mir jetzt auch gehorchen, sonst stirbt er vielleicht doch noch. Er liegt da seit zwei Tagen, und seit gestern früh hat er nichts mehr zu trinken bekommen. In dem Becken ist Wasser. Ich weiß nicht, ob es den Durst erhöht, wenn man es so dicht vor der Nase hat. Aber ich nehme es an.«
    Sie wollte etwas antworten, wollte sich beklagen über so viel Grausamkeit, aber sie war wie gelähmt. Verzweifelt suchte sie nach Anzeichen, dass es gar nicht Anschar war, der
dort lag. Sein Gesicht war nicht zu sehen, aber der große, fast nackte Körper unzweifelhaft seiner. Bleich wirkte er im schwachen Lampenlicht. Der weiße Rock war nass, von ihm selbst besudelt. Zwei Tage regungslos auf diesem Brett? In vollkommener Dunkelheit?
    »Du darfst ihm zu trinken geben«, sagte Mallayur.
    Was denn?, wollte sie schreien, aber dann lief sie auf Anschar zu. Sie wollte die Hände ins Wasser tauchen, das ziemlich unappetitlich aussah. Mallayur hielt sie erneut zurück und führte sie auf die andere Seite des Beckens.
    »Nicht so. Mach es von hier aus.«
    »Bitte?« Grazia versuchte sich frei zu zerren, doch er ließ sie nicht los.
    »Du verstehst schon. Füll das Becken auf – mit deiner Kraft, mit deinen Gedanken, oder wie immer du das tust.«
    »Wovon sprichst du?«
    »Streite es nicht ab. Du kannst irgendetwas … machen. Du kannst das Becken füllen.«
    Sie wollte es abstreiten, und an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit wäre es ihr vielleicht gelungen. Aber nicht jetzt. Nicht hier. Der Anblick ließ ihre Willenskraft schwinden. Anschar hatte langsam den Kopf gehoben und schüttelte ihn leicht, als versuche er dem Schleier strähniger Haare Herr zu werden, die ihm die Sicht versperrten. Doch die Bewegung war kraftlos.
    »Was, wenn ich es nicht schaffe?«, fragte sie leise. Sie vermochte nicht den Blick von ihm loszureißen. Sie dachte daran, wie sehr er es gehasst hatte, vor den Wüstenmenschen auf die Knie zu gehen. Dies hier musste

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