Das gläserne Tor
für ihn unerträglich sein.
»Dann wird er ziemlich leiden, denke ich. Vor morgen Abend bekommt er auf herkömmlichem Weg jedenfalls nichts zu trinken. Und warum solltest du es nicht schaffen? Entweder du kannst das – oder nicht.«
Ihre Hände berührten den steinernen Rand. Das Becken war groß, das Wasser etwa dreißig Zentimenter unterhalb von Anschars Mund. Oder drei große Handbreit, wie man hier sagen würde. Mit kleinen Gefäßen hatte das nichts mehr zu tun. Grazia bedeckte das Gesicht, denn mit Anschars geschundenem Körper vor Augen würde ihr gar nichts gelingen. Sie presste die Fingerspitzen gegen die Stirn. Tu es, tu es!, schrie sie sich in Gedanken zu. Ihr Kopf begann zu schmerzen, und dann glaubte sie zu spüren, wie das Wasser stieg. Hinter sich hörte sie Mallayur zischend den Atem anhalten.
»Ich hatte mich also nicht getäuscht«, flüsterte er. »Weiter, weiter!«
Schmerzhaft bohrten sich seine Finger in ihre Arme. Sie riss die Augen auf. Wahrhaftig, es war gestiegen, aber nicht annähernd genug. Anschar keuchte. Vor Gier nach dem Wasser oder weil es ihn erschreckte? Grazias Kehle schien auszutrocknen, als wolle sie sein Leid mit ihm teilen. Sie versuchte den Pegel zu erhöhen, doch das, was wuchs, war nur ihre Verzweiflung.
»Es geht nicht. Bitte, lass es damit gut sein!«
Mallayurs Hände sackten an ihr herab. Er knurrte und fragte dann: »Woran bist du jetzt gescheitert?«
»Das weiß ich nicht, vermutlich aber an der Art und Weise, wie du es erzwingen willst.«
»Du meinst, du möchtest überredet werden?« Er lachte leise. »An einem schöneren Ort, mit Musik und Blütenduft? Ja, wenn es denn hilft? Zum Zeichen meines guten Willens lasse ich dich mit ihm ein paar Augenblicke allein, dann kannst du ihm sagen, was immer du ihm sagen willst. Ich schicke einen Palastwächter, der wird dich dann nach oben bringen.«
Mit einem letzten faszinierten Blick in das Becken ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich. Grazia lief zu Anschar, tauchte die Hände ins Wasser und gab ihm zu trinken.
Er schluckte, gierig und geräuschvoll wie das Sturhorn am Bachlauf. Es war nicht nötig, ein zweites Mal zu schöpfen; das Wasser floss endlos aus ihren Händen. Endlich hob er den Kopf und versuchte wieder die Haare zurückzuwerfen, um sie anzusehen. Sie strich ihm die Strähnen aus dem harten, erschöpften Gesicht.
»Feuerköpfchen«, flüsterte er. »Warum … warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Ach, weißt du …«, fing sie hilflos an. Ihre Stimme war alles andere als fest. »Ist das jetzt noch wichtig?«
»Ja!«
»Ich wusste nicht, wie du es auffassen würdest. Als ich noch daheim war, habe ich meiner Familie auch nichts gesagt. Ich hatte ein sehr seltsames Erlebnis. Da war ein Mann auf einem Steg, er hatte mich mit seinem Wasser schier überschwemmt. Es war wie ein Traum. Aber es war kein Traum. Und als ich es erzählte, hat mir niemand geglaubt. Sie haben mich wie ein Kind, das etwas Dummes angestellt hat, ins Bett gesteckt. Ich dachte, du wirst genauso reagieren wie Friedrich.«
»Fried- was ? Wer immer das ist, was hat der mit mir zu tun? Glaubst du, ich hätte dich auch schlafen geschickt? In der Wüste?«
»Es tut mir leid! Ich kannte weder dich noch deine Kultur. Ich kenne sie jetzt immer noch nicht. Es gab bei uns eine Zeit, da hätte man eine Frau verbrannt, wenn sie behauptet hätte, so etwas zu können. Woher soll ich wissen, wie es mir hier ergeht? Bitte, lass uns die kurze Zeit nicht für so eine dumme Auseinandersetzung verschwenden.«
»Schon gut«, flüsterte er. »Schon gut.«
Erneut strich sie ihm die Haare hinters Ohr. Eine silberne Blume hing daran, das Symbol Herscheds. Seine Haut war kalt. Sie legte die Hand an seine Wange. Er schloss die Augen, und für einen Moment entspannten sich seine Züge.
»Du musst es dem Meya zeigen«, sagte er. »Er muss es wissen. Geh zu ihm, sofort. Du musst weg, du bist hier nicht sicher. Wer weiß, auf welche Ideen Mallayur in diesem Augenblick kommt. Er hat mich über dich ausgefragt. Und meide diesen Palast, so schwer es dir fallen mag.«
»Das wird mir sehr schwer fallen. Und Henon auch. Er möchte dich sehen, er verzehrt sich nach dir.«
»O Inar, nein, nein! Verbiete es ihm! Er soll mich nicht so sehen, das wäre für ihn ja noch schlimmer. Nein, ich will das nicht. Und schon gar nicht, dass er hier herumläuft.«
»Aber es wird ihm sehr weh tun, wenn ich ihm das sage.«
»Dann tu ihm weh!«, krächzte er.
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