Das gläserne Tor
an seiner Seite saß. »Anschar ist ein Argade und trotzdem ein Sklave. Sein Leben lang, sagte er. Wie kam es dazu? Hat er als Kind irgendetwas verbrochen?«
»Nein.« Henon zögerte, es war deutlich, dass er sich erst überwinden musste. »Er wurde schon als Sklave geboren. Du hast recht, Herrin, fast alle Sklaven holt man sich aus der Wüste.«
Grazia wurde schlecht, als sie daran dachte, wie leicht sie selbst in die Sklaverei hätte geraten können. Warum war es ihr nicht passiert? Doch nur, weil sie in Begleitung Anschars gewesen war.
»Du bist so ganz anders«, sagte Henon, als habe er ihre Gedanken erraten. »Du hast nichts zu befürchten. Dich werden sie herumzeigen wie einen hübschen Vogel und sich an deiner Fremdartigkeit ergötzen.«
»Das habe ich schon gemerkt.« Sie verdrehte die Augen. »Aber sprich weiter.«
»Es gibt auch argadische Sklaven. Das sind Leute, die sich zeitweise als Mietsklaven verdingen – heruntergekommene Burschen, Schuldner, Leute ohne ein Dach über dem Kopf. Aber das hat nichts mit Anschar zu tun. Er ist kein Argade.«
»Aber dann müsste er ja …«, sie schüttelte verwirrt den Kopf. »Er hasst die Wüstenmenschen! Er sieht auch nicht wie einer aus.«
»Er stammt nicht aus der Wüste. Ebenso wenig wie ich. Hast du je von dem Land Temenon gehört?«
»Du meinst das ferne Land, gegen das Argad Krieg geführt hat?«
»Ja«, sagte Henon. »Da kommen wir her.«
11
A nschar schob die linke Hand unter die Matratze. Wo war das Buch? Hatte er es nicht darunter versteckt? Nein, man hatte es ihm weggenommen, jetzt erinnerte er sich. Er sah die Flammen, die es aufgefressen hatten. Das Papier, wie es schwarze Ränder bekam, sich wellte und in Asche aufging. Ach, in die Unterwelt damit, was sollte er denn mit einem Buch, in dem er nicht lesen konnte? Enttäuscht aufseufzend rollte er sich auf den Rücken und erschrak. Jemand beugte sich über ihn.
»Bleib liegen.« Ein kahl geschorener Kopf, wie er bei der Kaste der Ärzte üblich war, schälte sich aus der Düsternis. »Hast du die Prozedur gut überstanden?«
»Weiß nicht.« Anschar setzte sich auf und presste die Zähne zusammen, um seine Übelkeit herunterzuschlucken. Er konnte sich erinnern, in dem Moment, als sich das Eisen auf seine Hand gesenkt hatte, einen Schrei ausgestoßen zu haben, der nicht von dieser Welt war. Dann war er im Schlafraum der Sklaven aufgewacht, hier auf seiner Matratze. Aber wie lange war das her? Stunden vielleicht, er hatte keine Vorstellung. Er wusste nur, dass hilflose Wut in ihm kochte und er sie nicht hinauslassen konnte. »Bin ich wirklich ohnmächtig geworden?«
»Deine Verfassung war vorher schon schlecht. Und die Verletzung an deinem Kopf zeigt, dass sie dich trotz der Fesseln niederschlagen mussten.«
Anschar ertastete eine schmerzende und mit Blut verkrustete Stelle dicht an seiner Schläfe. »Egnasch sei verflucht.«
»Ach, Egnasch.« Der Arzt rollte die Augen, setzte sich zu ihm auf den Rand der Matratze und stellte einen Kasten neben sich ab. »Hätte ich gewusst, dass dieser Schlächter deine Tätowierung ausbrennt, hätte ich es dem König ausgeredet und es selbst übernommen. Aber ich erfuhr davon erst, als es vorbei war.«
Vorsichtig streckte Anschar seine Finger. Die Wundränder spannten sich. Sein halber Handteller war verbrannt, auch die Innenseiten der unteren Fingerglieder. Egnasch hatte es sich nicht nehmen lassen, mehr als nötig zu tun.
»Du solltest in der nächsten Zeit deine Finger so oft wie möglich strecken«, wies ihn der Arzt an. »Sonst kannst du es später vielleicht nicht mehr. Wenn dir schlecht ist, leg dich wieder hin.«
»Es geht schon.«
Er bekam einen frisch gebrühten Sud in die gesunde Hand gedrückt. Den Geruch kannte er, der Trank diente der Stärkung, also leerte er den Becher. Währenddessen öffnete der Arzt die Fläschchen und Tiegelchen, die er seinem Kasten entnommen hatte, beträufelte eine Binde und wickelte sie um die Brandwunde. Darüber kam eine weitere, trockene Binde.
»Es muss oft Luft an die Wunde«, erklärte er. »Ich schicke einen Gehilfen, der dir den Verband einmal am Tag erneuert. Mehr ist nicht zu tun. Lass dir kein Salz aufschwätzen, das ist dafür nicht geeignet. Mallayur geht davon aus, dass du drei Wochen brauchst, bis du wieder ein Schwert halten kannst. Pass auf deine Hand auf, damit sie auch wirklich in dieser Zeit heilt.«
»Ihn zu erwähnen, trägt bestimmt nicht dazu bei!«, fauchte Anschar ihn an. Die
Weitere Kostenlose Bücher