Das gläserne Tor
Verbeugung ab und folgte Darur, der draußen auf dem Korridor innehielt, damit sie vorausging. Sie tat es, ohne sich dessen wirklich bewusst zu werden.
Anschar vergessen. Vergessen . Sie wünschte sich nach Hause zurück. Dort konnte sie ihn vergessen. Vielleicht.
Beinahe wäre Grazia beim Eintreten in ihre Wohnung über Henon gestolpert. Der alte Mann hatte das Bett verlassen und sich neben der Eingangstür auf einer Bastmatte schlafen gelegt. Auf dem Tisch brannte eine Öllampe in einem bronzenen Korb, der verschlungene Muster an die Wände warf. So ein alter Dummkopf, dachte sie gerührt, beugte sich über ihn und vergewisserte sich, dass es ihm gut ging. Wenn er es unbedingt wollte, würde sie ihn eben auf dem Boden schlafen lassen. Immerhin hatte sie nun Zeit, sich eine Lüge zurechtzulegen. Unmöglich konnte sie ihm erzählen, in welchem Zustand sie Anschar gesehen hatte. Unmöglich!
Sie wartete, dass Darur wieder hinausging, um vor der Tür Wache zu halten, doch er rührte sich nicht von der Stelle. Da begriff sie, dass er seiner Arbeit hier drinnen nachzugehen gedachte, wie er es im Zimmer des Meya getan hatte.
»Du willst da jetzt wirklich die ganze Zeit stehen?«, fragte sie leise, um Henon nicht zu wecken.
»Wie du gehört hast, Herrin, werde ich mich mit Buyudrar abwechseln.«
»Ginge das draußen auf dem Flur nicht genauso gut? Ich werde bestimmt nicht von der Terrasse klettern.«
»Da ich keinen Deut von meiner Anweisung abrücken werde, ist es nicht nötig, mich zu irgendetwas überreden zu wollen.«
Grazia wirbelte auf dem Absatz herum und lief auf die Terrasse. Das war ja grässlich – nicht nur Stubenarrest, nein, nun hatte sie auch noch einen fremden Mann in der Wohnung! Sie stützte die Ellbogen auf die Terrassenmauer und ließ sich den warmen Abendwind um die Nase streichen. Die beiden fremden Städte lagen ihr zu Füßen, einladend beleuchtet von kleinen flackernden Lämpchen in den Fenstern. Aber unerreichbar. Sie hatte von Argadye und Heria bisher wenig gesehen. In beiden Palästen war sie gewesen, im Tempel und
in der grässlichen schwebenden Stadt. Vor ihr lag eine lebendig gewordene bronzezeitliche Kultur. Ein Traum. Und ein Albtraum zugleich. Anschar hatte gesagt, sie solle nach Hause gehen. Das wollte sie ja auch, aber der Weg dorthin schien lang und mit Steinen gepflastert. Sie war eingesperrt. Der heilige Mann, der vielleicht den Rückweg kannte, war irgendwo auf Reisen. Dann waren da dieser rätselhafte Schmuck und ihre Gabe, von der sie immer noch nicht wusste, warum sie sie besaß, deretwegen aber zwei Könige ein Auge auf sie geworfen hatten. Das Schlimmste von allem aber war die Sorge um Anschar, die ihre Gedanken lähmte.
»Ach, das ist alles zu viel für meinen kleinen, geplagten Kopf«, jammerte sie auf das fahl schimmernde Meer der Flachdächer hinunter. »Warum ich? Warum passiert das ausgerechnet mir?«
Sie drehte sich um und neigte sich zur Seite, um Darur unauffällig zu mustern. Unverändert stand er vor der Tür. Wollte er wirklich bis zur Wachablösung dastehen, die ganze Nacht? Allein der Gedanke ließ ihre Füße anschwellen. Ob sie ihm einen Stuhl anbieten sollte? Wie, um alles in der Welt, verhielt man sich einem derart ungebetenen Gast gegenüber?
Seine Tätowierung erinnerte sie schmerzlich an Anschar. Auch das Schwert an seinem Gürtel. Sonst jedoch entdeckte Grazia wenig Ähnlichkeiten. Darur überragte ihn noch um einen halben Kopf. Ein Mann wie ein Birke, fast schon schlaksig. Seine nackten Arme schienen nur aus Sehnen und knotigen Muskeln zu bestehen. Er sah eher aus wie ein Läufer, nicht wie ein Krieger. Sie winkte ihn heran. Er blieb in angemessenem Abstand auf der Schwelle zur Terrasse stehen.
»Herrin?«
»Du hast doch Anschar gekannt, oder?«
»Ja, natürlich.«
»Glaubst du, er kann das, was der Meya meinte, dass er es
jetzt können müsse? Sich fügen? Auf seine Sklavenerziehung besinnen?«
Er krauste die faltige Stirn. Grazia schätzte ihn auf weit über dreißig, denn seine Haare, die er zu einem Zopf geflochten trug, waren von silbernen Strähnen durchzogen. »Ich weiß es nicht, Herrin. Ich habe ihn ja nie als Sklaven erlebt. Ohne den Haken an seinem Ohr würde man es nicht wissen. Das heißt, doch. Einmal, erinnere ich mich, war der Meya auf ihn zornig. Ich weiß nicht mehr, warum, es war keine große Sache. Er befahl Anschar auf die Knie, und der tat es ohne Zögern. Ich weiß noch, wie ich im ersten Moment entsetzt über diese
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