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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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schmerzende Stelle an seinem Kopf meldete sich mit warnendem Pochen.
    Der Arzt verstaute seine Tinkturen, schlug den Deckel
herunter und stand auf. »Es ist immer dasselbe: Die schlechte Laune bekommt der Arzt ab.« Er klemmte sich den Kasten unter den Arm, klopfte Anschar aufmunternd auf die Schulter und verließ den Raum. Anschar bewegte die Finger und betastete den Verband. Die Haut brannte jetzt nicht mehr ganz so schlimm. Viel schlimmer war die Demütigung, die man in sein Herz gebrannt hatte. Einer der Zehn hatte die Zeichen der Zugehörigkeit zum Meya hergeben müssen – so etwas hatte es gewiss noch nie gegeben.
    Er legte sich wieder hin, bettete die Hand auf dem Bauch und schloss die Augen. Im Grunde war es hier nicht viel anders als in der Höhle: Es war stickig, wenngleich alles andere als heiß. Er war von Wüstenmenschen umgeben. Und er war ein Gefangener. Ein wenig nickte er ein, aber er bekam mit, wie die Sklaven hereinkamen, hörte sie sich hinlegen, hörte Egnasch herumschleichen und irgendeinen wachrütteln, damit der ihm hinausfolgte. Anschar überlegte, was es damit auf sich hatte. Nun, es lag auf der Hand: Egnasch suchte einen Unglücklichen, der ihm die Nacht versüßte. Allerdings konnte Anschar sich nicht vorstellen, dass ein Mensch des Hochlandes, selbst ein Hund wie Egnasch, sich an Wüstenratten verging. Aber hier unten mochte man mit der Zeit die merkwürdigsten Gedanken hegen. Er hoffte nur, Egnasch käme nicht auf die Idee, auch an seiner Schulter zu rütteln. Denn dann würde Blut fließen.
    Anschar stemmte sich mit zusammengebissenen Zähnen hoch, wankte zum Herd, wo er sich kurz abstützen musste, und tappte leise aus dem Raum. Noch schliefen nicht alle; sicherlich blieb nicht unbemerkt, dass er hinausging, aber es konnte ja sein, dass er sich nur erleichtern wollte.
    Der Abtritt interessierte ihn nicht. Stattdessen suchte er sich einen Weg hinauf in die weiten, lichten Gänge des Palastes, wo noch keine Nachtruhe herrschte. Niemand hielt
ihn auf, niemand störte sich an seiner Anwesenheit, als er die Treppenschächte erforschte. Ab und zu musste er sich auf eine Stufe setzen, sich ausruhen und warten, dass das Pochen im Schädel nachließ. Irgendwann hatte er den Zugang zum Dach gefunden.
    Es musste schon spät sein, aber vielleicht war sie noch wach. Eine angenehm kühle Brise wirbelte sein Haar auf, während er über das Flachdach ging. Es war hell. Der Mond des Inar stand in voller Blüte, während Hinarsya ihrem Gemahl ein sichelförmiges Hinterteil zuwandte. Anschar dachte daran, wie er Grazia die Sternbilder gedeutet hatte. Die drei Hüter der Elemente, darunter der Schamindar, das Schoßtier des letzten Gottes. Strahlend und stolz schritten sie über das Firmament. Anschar wünschte sich, er hätte ein Tier, das er den Göttern opfern konnte. Sie waren fort, trotzdem durfte man sie nicht vernachlässigen, denn noch immer achteten sie darauf, ob man sie verehrte. Und vielleicht – vielleicht – ließen sie sich gelegentlich dazu herab, einem Menschen zu helfen. Niemand wusste es genau.
    Feuerköpfchen, ich würde gern für dich opfern, damit sie dir helfen, dachte er.
    Doch er besaß nichts. Sklaven durften keine Tiere opfern. Für ihn hatte das bisher nicht gegolten, er hatte wie ein freier Mann seine Opfer dargebracht, gar im Tempel an der Seite des Meya. Aber das war dort drüben gewesen, in seinem alten Leben.
    Er stand am Rand des Daches, unter sich die Schlucht. Auf der anderen Seite erhob sich der Palast des Meya, die Fensteröffnungen, Terrassen und Pfeilergänge von flackernden Lampen erhellt. Die Edlen in den Zimmerfluchten waren noch nicht zur Ruhe gekommen, von überall her drangen Unterhaltungen, Gelächter und Musik herauf. Auch in seinen früheren Gemächern brannte noch Licht. Und wahrhaftig, er
sah einen Schatten, der unzweifelhaft ihrer war. Sie stand auf der Terrasse. Blickte hinunter. Sah ihn vielleicht.
    Nein, dafür reichte das Mondlicht nicht aus. Es wäre auch unklug, sich zu zeigen, denn hatte er ihr nicht gesagt, sie solle ihn vergessen? Er hatte sich nur vergewissern wollen, dass sie wieder zurück in Argadye war. Der Gedanke, Mallayur könne sie wegen dieser seltsamen Fähigkeit festgehalten haben, hatte in seinen Eingeweiden gebrannt, fast so schlimm wie die Haut auf seiner Hand.
    War das wirklich geschehen? Hatte er wirklich Wasser aus ihren Händen getrunken, die wie eine Quelle waren? Es gab keinen Zweifel, denn es war nicht das brackige

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