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Das gläserne Tor

Titel: Das gläserne Tor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Wassermann
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Wasser aus dem Kühlbecken gewesen. Etwas Wohlschmeckenderes hatte er nie getrunken. Wie das sein konnte, wusste er nicht. Aber er wusste, sie war in Sicherheit. Mehr noch – ein hochgewachsener Mann war bei ihr, in dem er Darur zu erkennen glaubte. Der Meya hatte ihr also einen seiner besten Männer als Schutz an die Seite gestellt. Im Stillen dankte Anschar seinem früheren Herrn für diese Umsicht.
    Er hockte sich hin und befingerte das ungewohnte Gewicht an seinem Ohr. Müde war er ohnehin nicht mehr. Ihn zog nichts zurück in die Tiefen dieses verhassten Ortes. Er stellte fest, dass er Grazias Gehabe vermisste – diese merkwürdige Mischung aus Neugier und steifer Zurückhaltung. Ihre gerunzelte Stirn, wenn er ihr seine Sprache erklärte, und ihren freudigen Blick, wenn sie es begriffen hatte. Ihr ständiges O Gott! , wenn sie über etwas stolperte, das sie erschreckte. Selbst ihr Nägelkauen vermisste er und ihre Sorge um die Unversehrtheit ihres Körpers, der in ihrer Heimat anscheinend schon durch Blicke geschändet werden konnte.
    Nun verließ sie die Terrasse und kehrte in die Gemächer zurück, die jetzt die ihren waren. Ein kleiner, schmaler und leicht gebeugter Schatten tauchte auf, verneigte sich vor ihr
wie vor einer argadischen Edlen. Anschar stöhnte vor Sehnsucht auf. Henon, der ihm wie ein Vater war, den er vielleicht nie wieder sehen, nie wieder in die Arme schließen würde.
    Nein, es war nicht viel besser, hier zu sitzen und einem vergangenen Leben nachzutrauern. Er wollte es zurückhaben, aber dieser Wunsch würde auf ewig in ihm brennen und unerfüllt bleiben. Anschar erhob sich, wischte die Tränen aus den Augenwinkeln und lief zum nächstgelegenen Treppenschacht zurück.
    Ein letztes Mal blickte er zu den Sternen hinauf. Plötzlich war er überzeugt davon, dass Grazia irgendwo von dort herstammte. Aus einer anderen Welt. Gab es nicht einen Begriff für diesen Weg, den die Götter genommen hatten? Irgendwann hatte er Sildyu ihn erwähnen hören. Es musste Jahre her sein. Tor … ein Tor wie aus Glas.
    Das gläserne Tor .
    »Ob du es finden wirst, Feuerköpfchen?«

    Zurück in den Tiefen des Palastes hatte er Mühe, den Weg zu den Sklavenschlafräumen zu finden. Stattdessen erkannte er, dass er sich einer Ecke näherte, die zu betreten verboten war. Er wollte schleunigst kehrtmachen und einen anderen Weg suchen, doch ein klatschendes Geräusch hielt ihn zurück. Stimmen drangen gedämpft an sein Ohr. Es war Egnasch, den er da hörte, dazu das ängstliche Stöhnen eines jungen Sklaven. Anschar folgte, die verletzte Hand an die Brust gedrückt, einem schwachen Lichtschein, der sich über den Boden ergoss. Ein grob aus den Felsen gehauener Eingang tauchte vor ihm auf. Er duckte sich in den Schatten der Wände und spähte hinab in ein großes, von einer Lampe erhelltes Gewölbe.
    Ein junger Wüstenmann kniete auf allen vieren. Blut sickerte aus seiner Nase.

    »Steh auf«, befahl Egnasch. Kaum stand der Sklave, hob er blitzschnell seine Peitsche. Der Junge machte einen Satz nach hinten und heulte ängstlich auf.
    »Bitte nicht, Herr«, wimmerte er und schlug die Hände vors Gesicht.
    »Es wird dir eine Lehre sein, hier herumzuschnüffeln. Einfach das Tuch herunterzureißen! Wie, glaubst du, kommt es wieder hinauf? Soll es fliegen? Oder wie hast du dir das gedacht?«
    »Ich wollte es nur anheben und nachsehen«, verteidigte sich der Sklave. »Da ist es weggerutscht.«
    Ein graues Tuch lag auf dem Boden, groß wie zehn Bettlaken. Der Aufseher rieb sich das Kinn.
    »Dieses Ding ist sehr glatt, das muss ich zugeben. Na schön, wenn du mir hilfst, das Tuch wieder an Ort und Stelle zu schaffen, verzichte ich darauf, dir deine Neugier aus dem Leib zu prügeln.« Er legte die Peitsche auf den Boden. Gemeinsam machten sie sich daran, einen Tisch heranzutragen. Dann nahmen sie zu Anschars Erstaunen das Tuch, stiegen auf den Tisch und warfen es schräg in die Höhe. Es sah lächerlich und vollkommen sinnlos aus, doch beim dritten Versuch blieb das Tuch in der Luft hängen. Sofort sprangen sie herunter, schoben den Tisch aus dem Weg und fingen an, es zurechtzuziehen. Es sah nun so aus, als befände sich unter dem Tuch eine dicke Säule, so hoch wie zwei Männer. Egnasch nahm ein Seil zur Hand und lief damit um dieses Gebilde herum. Anschar fuhr sich mit dem Daumen über die Augen. Er musste blind gewesen sein, dass er nichts gesehen hatte.
    »So, das hält jetzt. Und du wirst Stillschweigen bewahren«,

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