Das gläserne Tor
Sklaventrakt, machte einen Umweg über den Abort und tastete sich zu seiner Matratze vor. Über die Erleichterung, es unbemerkt geschafft zu haben, vergaß er beinahe seine seltsame Beobachtung. Stattdessen stahl sich vor sein inneres Auge das Bild von dem Rotschopf auf seiner Terrasse.
»Wir sind damals mit zweihundert Leuten aufgebrochen, mit Unmengen an Reittieren und Vorräten. Nur eine kleine Gruppe schaffte es bis hierher. Dazu gehörten ich und Anschars Mutter. Sie war auserwählt worden, die Reise zu unternehmen, um die Hochländer zu warnen. Unsere Priester wussten, dass die Götter wegen des lang anhaltenden Krieges zornig auf die Menschen der Hochebene waren. Also schickten sie Siraia nach Argad. Doch es war ein aussichtsloses Unterfangen; wir wussten so wenig über dieses Land hier, über die Sklavenhändler und dass sie wie Raubtiere über alles
herfallen, was sich der Hochebene nähert. So wurden wir aufgegriffen und auf den Sklavenmarkt geschafft. Niemand hörte uns an, niemand glaubte uns.«
»Konntet ihr euch denn verständigen?«, fragte Grazia.
Henon wiegte den Kopf. Er sprach für seine Verhältnisse erstaunlich ruhig und flüssig. »Unsere Sprache ist ähnlich der des Hochlandes. Man hätte es gekonnt, wenn man sich nur ein bisschen Mühe gegeben hätte. Siraia wurde von einem Sklavenaufseher geschwängert, die anderen irgendwohin gebracht, wir verloren sie aus den Augen. Nur Siraia und ich blieben meistens in der Nähe des anderen. Wir wurden erst in die Palastküche gesteckt, dann mussten wir die königlichen Vogelhäuser sauber halten.«
»Man muss euch doch irgendwann geglaubt haben!«, rief sie. »Das kann doch einfach nicht sein.«
»Es war aber so. Siraia war vor den Meya getreten, hatte sich ihm zu Füßen geworfen und ihm alles erklärt, aber er hatte ihr nicht geglaubt.«
Dies versuchte sich Grazia vorzustellen – Anschars Mutter, wie sie vor Madyur-Meya kniete. Er hatte damals nicht gewusst, dass ihr Sohn einer der Zehn werden würde. Nichts hatte er gewusst, nichts wissen wollen. Grazia presste die Hände an die Schläfen und schüttelte den Kopf. Was war das nur für eine üble Geschichte?
»Danach bekam sie keine Gelegenheit mehr, es zu versuchen«, fuhr er fort. »Und sie entschied sich, nichts mehr zu sagen. Sie war immer eine Frau mit einem freundlichen Wesen, doch nach einigen Jahren der Gefangenschaft war davon nichts mehr übrig. Nur noch Hass. Nicht bei mir, ich war einfach müde. Ich glaube, ich wurde damals schon zu dem schreckhaften alten Mann, der ich jetzt bin. Als wir von Temenon aufbrachen, ja, da stand ich noch im Saft und bin keiner Gefahr ausgewichen.« Er gluckste, als erheitere ihn die
Erinnerung. »Siraia kam in ihrem Hass zu dem Entschluss, die Hochländer in ihr Verderben rennen zu lassen, und ich schwieg, weil es ihr Wunsch war. Und weil ich sowieso keine Kraft gehabt hätte, sie umzustimmen. Als man ihr Anschar wegnahm – da war er sechs Jahre alt -, verstummte sie fast vollends. Selbst mir gegenüber.«
»Was hat man mit ihm gemacht?«
»Kinder, die von Sklavinnen geboren werden, gehören nicht zum Kauf dazu, sie müssen irgendwann dem Händler zurückgegeben werden. In Anschars Fall war das Fergo, der größte Sklavenhändler des Hochlandes. Kinder sind äußerst begehrt, weil sie sich gut formen lassen. Sie lernen von klein auf, wie ein Sklave sich zu verhalten hat. Bei Anschar stellte sich bald heraus, dass man einen Krieger aus ihm machen könnte. Eigentlich bringt man Sklaven keine Kampftechniken bei, aber es gibt ja für alles Ausnahmen.«
Gedankenvoll nickte er. Ein schwaches Lächeln glitt über seine Züge.
»Anschar war einfach ungewöhnlich. Hinzu kam, dass es damals eine Zeit lang keine Zehn gab. Ich meine, keinen einzigen. Der Meya wollte diesem Zustand dringend abhelfen. Im ganzen Hochland wurden Krieger gesucht. Es fanden sich nur wenige, die geeignet schienen. Anschar war achtzehn Jahre alt, als Fergo ihn Madyur vorstellte. Einige Monate später ließ der seinen Arm zeichnen. Wusstest du, dass der Meya einen Teil der Tätowierung selbst ausführt?«
Sie sah, wie seine Augen vor Stolz glühten. Er berührte die Innenseite seiner linken Hand.
»Diese vier Zeichnungen, hast du sie gesehen?«
»Ja.«
»Die sticht der Großkönig eigenhändig in die Haut. Auf der Innenseite ist das besonders schmerzhaft. Es soll den Krieger daran erinnern, wem er dient.«
Und jetzt dient er einem anderen, dachte sie. »Siraia besaß Schmuck.
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