Das gläserne Tor
Nicht nur diesen einen Ohrring, sondern zwei. Und eine Halskette.«
»Eine Halskette?«
»Nicht? Es ist jedenfalls eine Kette, an der mehrere Schnüre mit blauen Steinen und Goldperlen hängen. Wie trägt man sie denn sonst?«
Mit beiden Zeigefingern strich er sich über die Stirn. »So. Die unteren Perlen bedecken die Brauen.«
Grazia nickte. Irgendwie hatte sie geahnt, dass man sich das Schmuckstück nicht einfach um den Hals legte. Mit dem Gold auf dem Kopf hätte sie erst recht wie eine Varietétänzerin ausgesehen; ihre Mutter hätte ihr nie erlaubt, sich so photographieren zu lassen. Meine Güte, dachte sie, wie lange ist das jetzt her? Sie dachte daran, Henon zu sagen, dass sie den Schmuck getragen hatte, aber das würde ihn so sehr verwirren, dass er gar nichts mehr herausbekäme. »Wieso hatte Siraia den Schmuck eigentlich behalten dürfen? Ich meine, darf eine Sklavin so kostbaren Goldschmuck besitzen?«
»Nein, ich hatte ihn gut versteckt. Da Wüstenmenschen für gewöhnlich keinen Schmuck besitzen, rechnen die Fänger auch nicht damit, dass man ihn sich … irgendwohin steckt. Verstehst du?«
Das tat sie nicht, aber so wichtig erschien ihr das auch nicht, um es sich jetzt genauer erklären zu lassen. »Und dann?«
»Später hat sie ihn in ihrer Matratze verborgen. Es ging tatsächlich all die Jahre gut. Als sie dann Anschar fortgeben musste, wollte sie nicht mehr leben. Im ersten Jahr danach machte sie sich noch Hoffnung, ihn wiederzusehen, aber das geschah nicht. Sie war in sich gekehrt, sprach mit niemandem ein Wort. Wie erschrak ich, als sie dann plötzlich mit mir redete! Sie bat mich, sie dorthin zu bringen, wo sie zuvor gehört hatte, dass das Tor sei, irgendwo in den Ausläufern des Hyregor.
Nun können zwei Sklaven nicht einfach so durch die Gegend laufen, wie du dir sicher denken kannst. Wir mussten es heimlich tun. Den Palast zu verlassen, ist nicht schwierig. Auch in den Straßen fällt man nicht auf. Aber draußen dann vor der Stadt, da ist es schon anders. Wir mussten uns nachts durch die Felder schlagen und uns tagsüber verstecken.«
»Ihr wolltet auf diesem Weg flüchten? Durch das Tor?«
»O nein. Siraia wollte sterben. Natürlich fanden wir das Tor nicht. Tagelang irrten wir in den Bergen umher. Sie fiel auf die Knie und flehte den letzten Gott an, sie fortzubringen, weil sie nicht in dem verhassten Hochland begraben werden wollte. Sie bat ihn, sie an einen schönen Ort zu bringen – einen Ort wie aus einem Traum, um dort eine Ewigkeit träumen zu können.«
Die Pfaueninsel, dachte Grazia. Die Insel der Märchen. Das preußische Arkadien.
»Ich war die ganze Zeit wie aufgelöst vor Angst«, redete Henon weiter, ohne ihr Erstaunen zu bemerken. »Ich glaubte natürlich nicht, dass etwas Wundersames passieren würde. Aber dann schälte sich auf einmal eine Lichtsäule aus dem Nichts. Siraia lachte, lief um die Säule herum und dankte auf Knien dem Gott. Und plötzlich stieß sie sich einen Dolch in den Leib.«
Unvermittelt sackte er zusammen und presste das Gesicht in die Hände. Sein Leib wurde von Schluchzern geschüttelt. Grazia wusste nicht, was sie tun sollte. Hilflos berührte sie seinen Rücken, doch er schien es nicht zu merken.
»Verzeihung, Verzeihung!«, stieß er schrill hervor und versuchte das Gesicht mit dem Saum seines Rockes zu trocknen. »Es ist so lange her, dass ich zuletzt darüber geredet habe. Jahre, viele Jahre … Es war so furchtbar. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Und dieses Licht, es machte mir solche Angst. Aber es zog mich auch an, und ich hatte keine Wahl, ich trug
Siraia ins Licht. Es schien mir, als werde mir der Leichnam aus den Armen gerissen, ich bekam keine Luft mehr, es war dunkel und nass, und dann war es wieder hell. Da war ein großes Gewässer, ich weiß nicht, ob es ein See war oder das Meer. Schilf am Ufer und so viele Bäume, wie ich sie nie gesehen habe. Siraia trieb auf dem Wasser. Ich zog sie ans Ufer.«
»Henon.« Grazia rüttelte ihn an der Schulter. Es beunruhigte sie, dass er nun wie gehetzt sprach. »Du musst nicht weitersprechen.«
Er richtete sich wieder auf und atmete mehrmals tief durch. »Du willst es doch wissen, Herrin.«
»Ich glaube, ich kann mir den Rest denken. Du hast sie begraben und bist dann wieder ins Wasser gesprungen, in das Licht. Und du hast die Feder eines Pfaus gefunden und mitgenommen. Henon, da, wo du warst, das ist meine Heimat.«
Er wischte sich über die feuchte Nase und sprach hastig
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