Das gläserne Tor
tunlichst nicht nach, denn er befürchtet, dass ich sie mir nur ausgedacht habe, um einen kleinen Sklavenjungen träumen zu lassen. Und das würde bedeuten, dass seine Mutter nur eine Wüstenfrau war. Aber die Geschichte ist wahr, ich schwöre es bei meinem Leben.«
Mit einem Mal war er bei ihr und fiel auf die Knie.
»Henon! Das will ich nicht.«
»Herrin, außer Anschar habe ich nie jemandem davon erzählt. Du bist die Erste. Wenn du nicht gesagt hättest, dass er mich dir geschenkt hat, hätte ich mich auspeitschen lassen, bevor ich es sage, selbst dir. Es steht mir nicht zu, dich um etwas zu bitten, und ich nehme dafür jede Strafe an. Aber bitte …«, er rang die Hände. »Bitte, wenn du zurück in deine Heimat kommst, sorge dafür, dass Siraia wieder unter die Erde kommt.«
»Ich verspreche es dir. Aber jetzt steh wieder auf.«
»Danke.« Er machte Anstalten, sich zu erheben, doch jetzt wirkte er so erschöpft, dass er einfach vor ihr hocken blieb. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass dieser so schwach und harmlos wirkende Mann einstmals die Wüste durchwandert und der Pfaueninsel einen Besuch abgestattet hatte. Aber es war geschehen. Er hatte das Tor gefunden.
Hinarsyas Mond beschien das Schlafzimmer. Oder war es der von Inar? Grazia hob die linke Hand und betrachtete den Ring an ihrem Finger. Fahl schimmerte das Gold in der nächtlichen Düsternis, die nie richtig schwarz war. Sie lag in Anschars ausladendem Bett und dachte an die seltsame Geschichte zurück. An den temenonischen Ohrring. Die Feder. In klassischen Sagen entpuppten sich die einfachen Männer oft als etwas anderes. Wie etwa der Hirte Paris, der in Wahrheit der Sohn des trojanischen Königs gewesen war. Ein
Königssohn war Anschar nicht, aber der Nachkomme eines Volkes, mit dem die Argaden Frieden schließen mussten, um den Fluch zu beenden. Und der Meya wusste nichts davon. Eine gewisse griechische Tragik ließ sich diesem Umstand nicht absprechen.
Sie rollte sich auf die Seite. Kaum hatte sie die Augen geschlossen, sah sie Anschars schreckliches Bild vor sich: gefesselt auf ein Brett, besudelt, verwirrt, gedemütigt. So ging es seit Stunden, sie konnte es nicht verhindern. Dann spürte sie seine kalte Haut an ihren Fingern, die Nässe seines Haars. Seine durstigen Lippen an ihrer Hand. Was tat er jetzt? Wie erging es ihm jetzt? Sie warf sich auf die andere Seite. Die Bespannung unter der Matratze knirschte. Draußen im Salon hörte sie Henon schnarchen. Klopfen, verhaltenes Gemurmel, Schritte. War da jemand gekommen? Sicher nicht, denn wer sollte sie mitten in der Nacht aufsuchen?
Sie setzte sich auf, als eine Hand ihre Schulter berührte. Das Licht eines Öllämpchens flammte auf. Es beleuchtete die müden, scharfen Züge des Königs, der sich über sie beugte.
»Ich kann nicht schlafen«, sagte er.
Grazia rutschte zur Wand zurück und zog sich das Laken bis ans Kinn. Weil er nicht schlafen konnte, platzte er einfach so hier herein? »Ich auch nicht«, murmelte sie.
Madyur setzte sich auf einen Hocker und legte die Hände auf die Schenkel. Bis auf ein lose umgeschlungenes Hüfttuch nackt, wirkte er wie aus dem Schlaf gerissen. Am Eingang knallte es, als Henon einen Wasserkrug fallen ließ, den er seinem König wohl hatte bringen wollen. Zitternd fiel er auf die Knie, flehte mehrmals um Verzeihung und machte sich daran, die Scherben aufzulesen. Madyur betrachtete seinen gebeugten Rücken, aber wahrzunehmen schien er ihn nicht. Nachdem Henon es endlich geschafft hatte, einen zweiten
Krug zu bringen und ihm einen kupfernen Becher zu füllen, nahm er ihn abweisend entgegen und trank.
»Diese Sache mit dem Wasser geht mir nicht aus dem Kopf«, fing er endlich an.
Grazia dachte daran, ihn zu fragen, ob er es schicklich fand, in das Schlafzimmer einer Frau zu stürzen, nur weil ihn etwas beschäftigte. Aber jemand, der so etwas wie ein Kaiser war, würde diesen Einwand wahrscheinlich nicht begreifen.
»Du schweigst?«
Sie räusperte sich. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir geht so vieles im Kopf herum.«
»Was denn?«
»Anschar zum Beispiel.«
Er rieb sich die Nase und nickte. »Ich habe Mallayur sofort rufen lassen, nachdem du bei mir warst. Er bestätigte, was du erzählt hattest, und versicherte mir, dass diese harte Strafe notwendig, aber eine Ausnahme gewesen sei. Dabei habe ich es belassen, denn im Grunde geht es mich ja nichts an. Es war unangenehm genug, ihm zeigen zu müssen, dass mir Anschars Verlust nahe geht.
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