Das gläserne Tor
weiter. »Weißt du, als ich dich zum ersten Mal sah, war das mein erster Gedanke. Aber ich dachte natürlich, dass ich mich irre. Nein, ich hatte nicht nur eine Feder gefunden. Wie hast du das Tier genannt? Pfau? Wir nennen ihn den Königsvogel wegen der Schwanzschleppe. Es gibt ihn hier nicht. Ich stolperte auf der Insel herum, auf der Suche nach etwas, womit ich Erde ausheben könne, und sah so viele wunderliche Dinge: seltsame Gebäude, fremdartige Blumen – und diesen Vogel. Ich hab ihn mit einem Stein erschlagen, um ihn mitzunehmen. Du weißt vielleicht nicht, dass man hier ganz versessen auf bunte Federn ist.«
»Oh, das habe ich schon gemerkt«, warf Grazia ein. »Bist du denn nicht auf Menschen getroffen?«
»Da liefen einige herum, aber ich habe mich immer schnell versteckt. Ich hörte sie reden. Ihre rohe Sprache und ihr fremdes Aussehen machten mir Angst. Bei einem dieser Gebäude
fand ich eine Schaufel, die musste ich ja stehlen, und ich fürchtete mich vor meinem eigenen Schatten, während ich das Grab aushob. Wer weiß denn, was mit mir passiert wäre, hätten sie mich erwischt!« Er fuhr sich über die erhitzte Stirn, als müsste er die Furcht erneut durchstehen. »Ja, und als ich dann zurück ins Wasser wollte, lief mir dieser Vogel über den Weg. Ich dachte, wenn ich ihn mitnehme, fällt meine Bestrafung für die heimliche Flucht nicht ganz so hart aus. So war es dann auch, denn andernfalls wäre ich nicht mehr am Leben und könnte dir das alles nicht erzählen. Ich begrub Siraia und legte ihren Schmuck ins Grab – nur einen Ohrring nicht, den wollte ich Anschar geben. Danach ging ich zurück ins Wasser. Die weiße Lichtsäule verschwand, kaum dass ich wieder trockenen Boden unter mir hatte. Mit dem Vogelbalg im Arm kehrte ich in den Palast zurück. Es folgten etliche Verhöre, aber ich habe nie verraten, dass ich in einer anderen Welt gewesen war, denn ich wollte nicht, dass man Siraias Ruhe störte. Stattdessen behauptete ich, den Vogel in den Ausläufern des Hyregor erlegt zu haben. In den folgenden Jahren schickte der Meya immer wieder Jäger aus, damit sie Königsvögel fingen. Ich glaube, ganz aufgegeben hat man das immer noch nicht.«
Das zumindest erheiterte ihn, denn er kicherte. Er schien nicht zu bemerken, dass sie rot geworden war. Sie schämte sich zutiefst. Aber wer hätte ahnen sollen, was es mit diesem Grab auf sich hatte? Bei dem Gedanken, wem die Knochen gehörten, die Friedrich einfach in eine Schachtel gelegt hatte, wurde ihr schlecht. Hätte es in jenen Tagen doch nur nicht so stark geregnet! Dann hätte Friedrich an den Erdschichten erkennen können, dass das Grab verhältnismäßig frisch war. Aber so, angesichts dieses Schmuckes, musste er glauben, es sei alt.
»Du bist so nachdenklich, Herrin.«
»Wie? Oh. Diese Geschichte klingt so bedrückend. Henon, ich sagte dir ja, dass ich von dort stamme, wo du warst. Der Schmuck wurde gefunden.«
»Ihr Götter!« Er schlug die Hände vors Gesicht und fing wieder an zu jammern. »Ich hatte so darauf geachtet, dass man das Grab nicht sieht. Ganz vorsichtig habe ich das Gras abgetragen und später wieder darübergelegt; ich dachte, es würde genügen.«
»Bitte beruhige dich. Siraia hat dort immerhin siebzehn Jahre unbemerkt geruht. Und der Schmuck ist wohlverwahrt.«
»Und ihre Knochen?«
»Ja … die auch. Wie ging es weiter? Wie wurdest du denn bestraft?«
»Ich musste für ein halbes Jahr in die Papierwerkstätten.«
Das klang nach einer milden Strafe. »Und wie hast du Anschar gefunden?«
»Ich hörte wieder von ihm, als er einer der Zehn wurde. Da bat ich, zu ihm geschickt zu werden, denn ich dachte mir schon, dass er einige Vergünstigungen erhalten würde. Eben auch, einen eigenen Sklaven zu besitzen. Wir erkannten uns sofort wieder. Seitdem war das Leben hier erträglich. Temenon nie wieder zu sehen, nagt nicht mehr so sehr an der Seele. Für ihn ist die Hochebene ohnehin die Heimat. Es ging uns in den letzten Jahren gut. Bis er hinaus in die Wüste geschickt wurde, um den letzten Gott zu finden.«
Grazia stand auf und ging zur Terrassenmauer. Heria lag unter ihr, ein von zahllosen Öllämpchen in den Häusern beleuchteter Teppich. Sie konnte den Palast sehen, die Umfassungsmauer, das Tor mit den beiden herschedischen Wachposten. Irgendwo dort war er. »Warum nur hat er mir das alles nicht gesagt?«
»Er sieht sich als Argade, er ist ja auch ein halber«, antwortete
Henon. Ȇber diese Geschichte denkt er
Weitere Kostenlose Bücher